Full text: Kritik des Gothaer Programms

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Welse als Arbeiterpartei geriert, sie bekleiden jetzt Amt und Würden 
in ihr. Es liegt hier eine absolute Unverträglichkeit vor. Meinen sie, 
was sie schreiben, so müssen sie aus der Partei austreten, mindestens 
Amt und Würden niederlegen. Tun sie es nicht, so gestehen sie 
damit ein, daß sie ihre amtliche Stellung zu benutzen gedenken, um 
den proletarischen Charakter der Partei zu bekämpfen. Die Partei 
also verrät sich selbst, wenn sie sie in Amt und Würden läßt. 
Die sozialdemokratische Partei soll also nach Ansicht dieser Herren 
keine einseitige Arbeiterpartei sein, sondern eine allseitige Partei 
„aller von wahrer Menschenliebe erfüllten Männer". Vor allem soll 
sie dies beweisen, indem sie die rohen Proletarierleidenschaften ab 
legt und sich „zur Bildung eines guten Geschmacks" und „zur Er 
lernung des guten Tones" (S. 85) unter die Leitung der gebildeten 
philanthropischen Bourgeois stellt. Dann wird auch das „verlumpte 
Auftreten" mancher Führer einem wohlehrbaren „bürgerlichen Auf 
treten" weichen. (Als ob das äußerlich verlumpte Auftreten der hier 
Gemeinten nicht noch das Geringste, wäre, das man ihnen vorwerfen 
kann!) Dann auch werden sich ,,zahlreiche Anhänger aus den Kreisen 
der gebildeten und besitzenden Klassen einfinden. Diese aber müssen 
erst gewonnen werden, wenn die ... betriebene Agitation greifbare 
Erfolge erreichen soll". 
Der deutsche Sozialismus hat „zuviel Wert auf die Gewinnung der 
Massen gelegt und dabei versäumt, in den sogenannten oberen 
Schichten der Gesellschaft energische (!) Propaganda zu machen". 
Denn „noch fehlt es der Partei an Männern, welche dieselbe im 
Reichstag zu vertreten geeignet sind". Es ist aber „wünschenswert 
und notwendig, die Mandate Männern anzuvertrauen, die Gelegen 
heit und Zeit genug gehabt haben, sich mit den einschlagenden 
Materien gründlich vertraut zu machen. Der einfache Arbeiter und 
Kleinmeister ... hat dazu nur in seltenen Ausnahmefällen die nötige 
Muße.“ Wählt also Bourgeois! 
Kurz: die Arbeiterklasse aus sich selbst ist unfähig, sich zu be 
freien. Dazu muß sie unter die Leitung „gebildeter und besitzender" 
Bourgeois treten, die allein „Gelegenheit und Zeit haben", sich mit 
dem vertraut zu machen, was den Arbeitern frommt. Und zweitens 
ist die Bourgeoisie beileibe nicht zu bekämpfen, sondern durch 
energische Propaganda — zu gewinnen. 
Wenn man aber die oberen Schichten der Gesellschaft oder nur 
ihre wohlmeinenden Elemente gewinnen will, so darf man sie bei-
	        
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