Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

Einleitung. 
Die gerichtliche Psychiatrie handelt von der Stellung des Geistes- 
kranken vor Gericht, mag er nun in einem strafrechtlichen Verfahren 
der Angeklagte sein, und seine Zurechnungsfähigkeit in Frage kommen, 
oder mag in einem Zivilprozesse seine Geschäftsfähigkeit, seine Testier- 
fähigkeit als Erblasser angezweifelt werden, mag gegen ihn der Antrag 
auf Entmündigung oder Ehescheidung schweben. Immer ist in allen 
diesen Fällen der Richter bei seiner Urteilsfällung auf die Unterstützung 
des ärztlichen Sachverständigen angewiesen und wird von ihm ein Gut- 
achten einfordern. 
Nicht nur der Fachpsychiater, auch der praktische Arzt kann unter 
Umständen in die Lage geraten, über derartige Gegenstände vor Gericht 
gehört zu werden, und sollte daher unbedingt über die wichtigsten in 
Betracht kommenden Bestimmungen und Überlegungen unterrichtet sein. 
In seiner Sprechstunde erscheinen Angehörige von Geisteskranken und 
wünschen über juristisch-psychiatrische Grenzfragen belehrt zu werden, 
bitten um die verschiedensten Atteste oder forschen nach den vermut- 
lichen Aussichten eines von ihnen beabsichtigten Entmündigungsantrages, 
einer Ehescheidungsklage usw... Hier überall vermag der Arzt einer 
näheren Kenntnis der gerichtlichen Psychiatrie nicht zu. entraten. 
Allein nicht weniger wünschenswert ist es, dass auch der Jurist 
wenigstens eine gewisse Vertrautheit mit diesem Gebiete der medizini- 
schen Wissenschaft erwirbt. Als Strafrichter und vor allem als Ent- 
mündigungsrichter kommt er gar nicht selten in die Lage, selbst Fragen 
an einen Geisteskranken richten zu sollen, um sich ein eigenes Bild von 
dessen Geisteszustand zu machen. Ferner wird er den Ausführungen 
ärztlicher Gutachten mit ganz anderem Verständnisse zu folgen ver- 
mögen, falls er einen gewissen Begriff von den möglichen Verlaufsformen 
seelischer Erkrankungen und der hier zu beobachtenden Zustandsbilder 
besitzt und sich vor allem von den landläufigen Laienirrtümern frei 
gemacht hat. 
Die Erfahrung lehrt, dass für erfolgreiches Zusammenarbeiten des 
Richters mit dem ärztlichen Sachverständigen gerade die Einsicht in die 
Schwierigkeiten einer Beurteilung geistiger Ausnahmezustände von wesent- 
lichem Nutzen ist. 
Raecke Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie.
	        
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