Full text: Kurzgefasstes Lehrbuch der gerichtlichen Psychiatrie für Mediziner und Juristen

Vorbesuche, 
a) Akteneinsicht. 
Gründliche Aktenkenntnis ist als Unterlage des Gutachtens zu ver- 
langen. In der Regel vermag man schon aus der Art der Tat, dem 
Verhalten des Angeschuldigten bei seinen ersten Vernehmungen, den 
Aussagen mancher Zeugen einen ersten allgemeinen Eindruck darüber 
zu gewinnen, in welcher Richtung sich die psychiatrische Untersuchung 
voraussichtlich zu bewegen hat. Liegt ein besonders verwickelter Fall 
vor mit sehr umfangreichen Akten, verschafft man sich bisweilen am 
schnellsten eine Übersicht, wenn man zuerst Tatbericht und Anklage- 
schrift heraussucht und die übrigen Akten von rückwärts durchblättert. 
Dann erst beginnt man die gründliche Akteneinsicht mit mehr Nutzen 
und wird nicht durch später als überflüssig Erkanntes aufgehalten. 
Wichtig sind alle die Punkte, welche die Herbeiführung einer 
psychiatrischen Begutachtung schliesslich veranlasst haben. Bald sind 
das Beobachtungen und Erwägungen von richterlicher Seite über auf- 
fallendes Benehmen, bald Mitteilungen der Angehörigen und Bekannten 
über frühere Zeichen geistiger Störung, schwere erbliche Belastung, 
Kopfverletzungen u. dergl., bald hat erst der Schriftsatz. des Verteidigers 
entlastendes Material in dieser Richtung zusammengetragen, 
Allein nicht selten sind gerade die für den Psychiater wertvollsten 
Erscheinungen bisher unbeachtet geblieben, sind nur zwischen den Zeilen 
zu lesen, bedürfen näherer Herausarbeitung. An allen derartigen be- 
merkenswerten Stellen, die noch nach Klärung verlangen, wie auch an 
den wichtigsten Aussagen der Zeugen lege man sich sogleich Zeichen 
ein und mache sich dann ‚einen chronologisch geordneten Übersichtsplan 
über das Vorleben des zu Untersuchenden, die Vorgänge der Tat usw. 
Erst dann gehe man an die persönliche Exploration. 
b) Vorbesuche. 
Befindet sich der Angeschuldigte auf freiem Fusse, kann man ihn 
zu sich in die Sprechstunde bestellen. Will man ihn aufsuchen, tut 
man im allgemeinen gut, ihn über den Zeitpunkt zu benachrichtigen, 
damit er zuhause bleibt. Trifft man ihn dann doch nicht, vermag man 
den Vorbesuch immerhin in Rechnung zu stellen. Für 3 Vorbesuche 
darf man ohne weiteres liquidieren. Übrigens empfehlen sich manchmal 
gerade überraschende Besuche ohne vorherige Ankündigung, weil sie 
allerlei interessante Einblicke gewähren. 
Befindet sich dagegen der zu Untersuchende in Haft, so ist es am 
sichersten, sich vom Untersuchungsrichter eine Besuchserlaubnis aus- 
stellen zu lassen. Doch genügt in der Regel schon das Vorzeigen der 
Ladung mit dem Auftrage zur Begutachtung des Geisteszustandes. 
Ausnahmsweise geschieht es wohl, dass der Sachverständige so kurz- 
fristig geladen wird, dass er keine Möglichkeit mehr hat, noch vor dem 
Termine einen Vorbesuch zu machen. Er kann dann wenigstens ver- 
suchen, vor Beginn der Verhandlung den Angeklagten zu sprechen und 
in einem Nebenzimmer rasch zu untersuchen. Oder aber er wird den
	        
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