Full text: Wilhelm Gerhard's Gesänge der Serben

Die nicht weit vom Amselfeld 2) gelegen: 
Selten gab es einen solchen Falken. 
Eines Morgens stand er auf gar zeitig, 5 
Weckt' und rief zu sich die treuen Diener: 
„Auf und sputet euch, ihr meine Diener! 
Sattelt mir den kampfgewohnten Schimmel, 
Schmückt ihn aus so schön ihr immer könnet, 
gemäß halten wollen, wenn er die Dame durch ihre neun Brüder in 
ebenso viele Stücke hätte hauen lassen; deshalb beschuldigt man den Ueber- 
setzer solcher modern-artigen Milderung; ich zwar bin geneigt, ein so 
barockes Verfahren einer barbarischen Willkür zuzutrauen." Wilhelm 
Gerhard erwidert wahrheitsgemäß, daß er getreu übersetzt und nichts an 
dem Originale geändert habe; er bezeichnet Band, Nummer und Seite 
in der Sammlung des Wuk Stephanowitsch. In der That ist denn auch 
das Verfahren des alten serbischen Helden keineswegs so barock und will 
kürlich , wie Göthe glaubt. Im Orient, und zwar nicht blos bei den 
Muhamedanern. sondern auch bei vielen christlichen Stämmen, hatte die 
Frau kein Recht, über sich zu disponiren. Bei den alten Hellenen war 
es ähnlich („siehe Friedrich Jacobs. Vermischte Schriften, IV. Theil, S. 
165—554) und in dem heutigen Griechenland ist es in den unteren Volks 
schichten noch so. Die Frau gehört Dem. der sie von ihren Eltern erwor 
ben hat und sie besitzt. Ein Haupterwerbs- und Besitztitel ist aber nach 
damaligem Recht auch die Eroberung, das jus occupandi. Wlach-Alia 
war daher kraft der Eroberung rechtmäßiger Besitzer der Frau geworden; 
sie gehörte ihm so lange, bis sie zurückerobert wurde. Nachdem letzteres 
geschehen, mußte die Zeit, wo sie dem Wlach-Alia gehörte, als Zwischen 
herrschaft betrachtet und nach dem jus postliminü behandelt werden. Hier 
aber kommt, neben der allgemeinen Welt- und Nechtsanschaunng. noch ein 
Moment des concreten Falls in Betracht. Die neun Brüder hatten sich 
geweigert, mit Strajnja gegen Wlach-Alia in das Feld zu ziehen. Sie 
waren zu feig, Partei und Waffen zu ergreifen. Die Frau hatte es ge 
than. Deshalb verzeiht der Held der letzteren zum Aerger der ersteren. 
Dies entspricht ganz seinem Charakter. Unserem Geschmack freilich nicht. 
2) Siehe Note 1 zum folgenden Gedichte.
	        
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