Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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Zustand des Christentums zu schätzen. Daher ist bei beu Refor 
mierten fast immer nur von plötzlicher Bekehrung die Rede, 
und, wie der Lutheraner sich bedenklich äußert über die Baue r 
oder die Gründlichkeit einer solchen plötzlichen Umwand 
lung, so wollen hingegen die meisten Reformierten die W a h r- 
heit einer allmählichen Bekehrung nicht anerkennen. 
So wenig der Lutheraner mit seiner tiefen, innigen und ge 
mütlichen Frömmigkeit sich schicken kann in das Partei- und Sek 
tenwesen des Reformierten, der sich übrigens ganz, wohl dabei 
befindet, so kann sich auch der Reformierte mit seiner entschiedenen, 
tätigen und verständigen Frömmigkeit in das mehr innerliche und 
verborgene und daher ihm lau und unentschieden, halb und trüg 
vorkommende Christentum des Lutheraners nicht schicken. Der 
Engländer und Amerikaner kann nicht begreifen das scheinbare 
oder auch wirkliche Schwanken zwischen Glauben und Unglauben 
bei den Deutschen und noch weniger, „wie z. B. in Berlin zwei 
christliche Familien unter einem Dach Jahrelang wohnen können, 
ohne von einander zu wissen." 
Die Frömmigkeit des Reformierten ist nun aber immer zu 
gleich eine sich äußerlich darstellende, eine tätige, und der 
praktische Verstand will seiner Ueberzeugung nach auch Hand e l n. 
Daher wird. einerseits dem Bekenntnis die größte Wichtigkeit 
beigelegt und auch eine scheinbare, negative Verleugnung des Herrn 
scharf gerügt; und andererseits die eifrigste Tätigkeit nach außen- 
hin von dem gläubigen Christen gefordert. Dieser auf das Wort 
Gottes sich berufende Eifer für das Reich Gottes hat freilich I)slu= 
fig Vernachlässigung der innern Heiligung veranlaßt und dem ra 
schen und beweglichen Reformierten von seiten des langsamen und 
bedenklichen Lutheraners den Vorwurf der V i e 11 u e r e i zu 
gezogen. Aber dieser Eifer hat dagegen auch in der reformierten 
Kirche die großartigsten Erscheinungen hervorgebracht, indem er, 
von kirchlicher und politischer Freiheit unterstützt, die ausgedehn- 
testen Wirkungskreise sich schuf, die dennoch zu umfassen und aus 
zufüllen, jeder Christ sich aufs äußerste anstrengt und darum ciuc 
Kraft der tätigen Liebe, der Aufopferung, der Selbstverleugnung, 
des unermüdeten Eifers für den Herrn entfaltet, die den Luther 
aner tief beschämen und zum Wetteifer reizen muß. 
Nachdem die lutherische Kirche zuerst infolge der Spenerschen 
Reformation in Halle eine Missions- und Bibelanstält erhalten 
hatte, welche ihre schönen Zwecke nach bestimmten, wohlgeordneten 
Gesetzen zu erreichen suchte, dabei aber eine ganz vereinzelte Er 
scheinung ohne weitere Ausdehnung blieb; nachdem die innerhalb 
der lutherischen Kirche selbst wieder als eine abgeschlossene Anstalt 
dastehende Brüdergemeinde Missionskolonien angelegt 
hatte (unstreitig die gediegenste und gründlichste, aber nicht immer 
glänzendste Art der Missionen), nachdem einzelne (erfolglose) Be 
mühungen zur Bekehrung der Juden gemacht worden waren, bil 
deten sich auch in der r e f o r m i e r t e n Kirche aus innerm 
Drange, aus Eifer für den Herrn voir kleinen Anfängen aus bis 
zu ungeheurer Bedeutung die unzähligen, großen und kleinen
	        
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