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sch Wärmerei. Dagegen ist aber die Gefahr der Verstandes-
schwärmerei in hohem Grad in ihr vorhanden und hat auch häu
fig die schlimmsten Erscheinungen erzeugt. Schwärmerei nennen
wir das eifrige Suchen nach Wahrheit ohne Klarheit, das durch
Verkennung der Wirklichkeit veranlaßte, unruhige Haschen nach ir
gend einem unwirklichen, imagmierten Gebilde der Phantasie,
das Fragen nach Zeichen und Wundern, ohne das wirklich geschehen
de Zeichen beachten zu wollen. Ein Schwärmer ist also derjenige,
welcher, herausgerissen aus dem ihm angemessenen und natürlichen
Zustand, die daraus entstehende innere Zerrissenheit durch irgend
ein unnatürliches oder übernatürliches, von außen hergenommenes
Mittel aufzuheben sucht. Daher ist die Benennung „S ch w ä r-
m e r" höchst passend von einem aus seinem natürlichen Stand
punkt vertriebenen Flüchtling hergenommen, der nun überall eine
neue Heimat sucht, nur nicht durch Umkehr zu der einzig rechten
und wahren, und daher stets hin und her schwärmt. So wird
der Christ leicht zu einem Schwärmer, wenn er nicht vor allem
dafür sorgt, daß sein Verhältnis zu Gott auf dem guten, festen
Boden einer gestifteten Versöhnung und des erworbenen Friedens
mit ihm beruht; wenn er diese durch nichts anderes ausfüllbare
Leere seines Herzens durch irgend eine mit seiner Phantasie erfaßte,
außerwesentliche Wahrheit auszufüllen sucht und nun
diese zum Mittel- und Ausgangspunkt seines religiösen Lebens
macht. Diese Krankheit ist, da sich der (reformierte) Schwärmer
gewöhnlich auf irgend ein Wort Gottes steift, äußerst schwer zu
heilen, und gewöhnlich fällt die Genesung mit der gründlichen,
währen Herzensbekehrung zusammen. Vorzüglich konnte nun auch
die Verwerfung aller Autorität der Kirche, die Ueberspringung.
einer Geschichte von 1500 Jahren in dem Reformierten leicht das
Bewußtsein eines Zwiespalts zwischen seinem jetzigen Christentum
und dem apostolischen erzeugen und ihn zu dem gefährlichen Ver
such veranlassen, diesen Unterschied entweder zu übersehen oder diese
Kluft mit irgend etwas Unzulänglichem auszufüllen. Das Ge
schehene, das Andersgewordene, das Vorhandene kann nun aber
einmal nicht ungeschehen gemacht oder redressiert werden; und darum
muß jeder Versuch, es dennoch zu tun, in Schwärmerei ausarten.
Aus solchen Versuchen sind alle schwärmerischen Sekten der refor
mierten Kirche entstanden, von den fanatischen Wiedertäufern cm
bis auf die Schwärmereien der englischen Sekten und besonders
der Quäker im 17., der Inspirierten, der Ellerianer und der nord
amerikanischen Sekten im 18. und 19. Jahrhundert. Daher die
schrecklichen Schwärmereien in Wildispuch und in andern Gegen
den der Sch>veiz, wie z. B. die Schwärmerei eines kleinen, sonst
ehrenwerten Häufleins Separatisten in Uverdun, welche nach Eph.
4, 11 ihren Apostel (Lardon) hatten und die Gabe der Wunder
haben zu müssen meinten. Daher die stete wehmütige Sehnsucht
Lavaters und aller seiner nähern Freunde nach einem Christen in.
voller apostolischer Kraft mit der Gabe, Wunder und Zeichen zu
tun, wobei sic nicht bedachten, daß die damaligen a u ß e r-
ordentlichen Gaben durch die Wirksamkeit des heiligen