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Geschichtliche Entwicklung der beiden Kirchen und
ihrer Theologie.
Wir haben in dem Vorhergehenden bereits mehreres aus der
g e s ch i cf)' t s i ch e n Entwicklung der beiden Kirchen zur
richtigen und genauern Vergleichung vorwegnehmen müssen. Doch
dürfen wir uns deshalb der besonderen Darstellung derselben nicht
entziehen; müssen uns aber, vorzüglich in Bezug auf die reformierte
Kirche, auf manches früher Gesagte zurückbeziehen, woraus schon
deutlich genug hervorgeht, daß die reformierte Kirche wegen ihres
streng-biblischen Charakters und ihrer gänzlichen Verwerfung jeder
geschichtlichen Tradition eigentlich gar keine innere Entwicklung und
daher auch keine innere Geschichte haben kann und will, welche
vielmehr immer nur in einer steten Rückkehr zur Bibel besteht,
Ivoraus dann alle jene Sekten entstehen. Ihre ä n ß e r e Ge
schichte, die Geschichte ihrer Ausbreitung und Unterdrückung, ist
dagegen weit reicher und mannigfaltiger als die Geschichte der
lutherischen Kirche; inwiefern dieses burcf) die religiöse Eigen
tümlichkeit derselben bedingt war, haben wir bereits erwähnt.
Was aber die Geschichte der reformierten Theologie betrifft,
so läßt sich dieselbe gar nicht im allge m eine n darstellen, da
die reformierten Nationen nicht weniger als vier verschiedene Spra
chen sprechen und die Theologen der einzelnen Kirchen, das kleine
Holland ausgenommen, frühzeitig der schnell zur höchsten Vollen
dung gereiften Landessprache und nicht, wie die gelehrten Luther
aner, der lateinischen Sprache sich bedienten. Dadurch wurden
aber die schon genug getrennten reformierten Völker fast gänzlich
isoliert, wodurch eine allgemeine, vielseitige und mannigfaltige
Entwicklung der Theologie unmöglich wurde. Vorzüglich waren
die wenigen deutschen Reformierten immer genötigt, sich an die
lutherische Theologie anzuschließen, ivie denn and) jetzt noch immer
die Bildung der reformierten Theologen Preußens auf den Uni
versitäten eine durchaus lutherische ist, da die dortigeil lutherischen
Professoren bisher die reformierte Theologie gar sehr vernachlässigt
haben und meines Wissens nur an der Hälfte der Universitäten
Preußens e i n ursprünglich reformierter Professor der Theologie
ist. Freilich ist dies wieder der Reformierten eigene Schuld, denn
sie haben nun einmal nach ihrer ganzen Eigentümlichkeit nicht nur
keine Neigung zur gelehrten Theologie, sondern vielmehr eine Scheu
und Abcignung vor derselben, und immer noch wenden sich nicht
wenige junge reformierte Theologen, die auf der Universität von
lutherischer Wissenschaft bedeutend angeregt waren, sobald sie iils
praktische Leben kommen, fast gänzlich wieder von derselben ab
und geben sich dagegen gänzlich ihrer vorherrschenden, einseitigen
Richtung aufs praktische Leben hin und widmen höchstens ihre
ganze Tätigkeit der Ausbildung der Predigt, kümmern sich
aber sonst weiter nick)t um die Theologie.
Wir haben den großen und wichtigen Vorzug, welchen die