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auch nicht von innen geheilt, sondern nur durch äußerliche Auto-
rität oder auch durch Gewalt unterdrückt wurde. Zu diesem llebel-
staud kam noch ein doppelter: der eine, daß die lutherische Kirche
sogar in der formalen und negativen Anwendung der heiligen
Schrift allmählich, wegen ihres Festhaltens an den nun einmal
durch die heilige Schrift normierten symbolischen Büchern und an
dem Buchstaben Luthers, nachlässig und lau wurde; und der a n-
d e r e, daß die lutherische Kirche durch den Gegensatz
gegen die gefährlichen Reformierten sich gezwungen sah, die mit
den: Glaubensgrundsatze unmittelbar nicht zusammen
hängende Abendmahlslehre zu einer wesentlichen Fun
damentallehre zu erheben und sich dadurch teils von ihrem
ursprünglichen natürlichen Kampfplatz abbringen 311 lassen,
teils die so äußerst notwendige weitere Ausbildung des G l a u-
b e n s g r u n d s a tz e s zu versäumen, lind als nun dennoch
endlich Spener die lutherische Kirche wieder zur Selbsterkenntnis
und Besinnung zurückführen wollte und die herrlichen Entwicklungs
elemente der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung neu auf
deckte, da fand dieser zweite Reformator nicht nur den heftigsten
Widerstand, sondern er konnte auch, von allen Seiten angefochten
und bedrängt, seine Grundsätze so wenig zu neuer, a l l g e m e i-
u e r Anerkennung in der ganzen Kirche bringen, daß nicht lange
nach seinem Tode seine Anstrengungen im allgemeinen i n
der Kirche als solcher fast gänzlich vereitelt wurden und
die lutherische Kirche sich darauf sogar ihr teuerstes Kleinod, die
Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben an die
Gnade Gottes in Christo, fast gänzlich entreißen lassen konnte.
Dadurch, daß dieses geschehen k 0 n u t e u n d
geschehen i st, wurde nun aber auch die lu
therische Kirche als solche, als lutherische,
zu einer Unwahrheit, denn sie beruhte nun faktisch und
zum großen Teil nicht mehr auf dem alleinigen Grundsatz Luthers.
Das konnten sich auch die ausgearteten lutherischen Theologen nicht
verhehlen und behaupteten daher, gegen die geschichtliche Wahr
heit, daß n i ch t jene Lehre das Reformationsprinzip Luthers
und der lutherischen Kirche gewesen sei, sondern vielmehr der (bloß
formale und negative) Grundsatz der Verwerfung aller menschlichen
Autorität in Glaubenssachen, oder die (bloß formale) Forderung
freier (d. h. willkürlicher) Forschung in der Schrift, welcher
Grundsatz, wie wir gesehen haben, bei Luther immer nur der se
kundäre, der negativ-regulierende, der defensive gewesen war iinb auf
keinen Fall die deutsche Reformation, im Vergleich mit der schwei-
zerischen, 311 einer lutheris ch e 11 gemacht hat. Doch koimte
eine solche Verkennung der eigentlichsten Eigentümlichkeit der lu
therischen Kirche ihr unmöglich aufhelfen, sondern mußte sic nur
desto schneller zu völliger Auflösung führen. Seitdem nun aber
die lutherische Kirche, seit 1813, vorzüglich auch von reformierter
Seite her, neu belebt ist, bleibt ihr nichts anderes übrig, als ent
weder mit neuem Eifer zu ihrem ursprünglichen (lutherischen)
Grundsätze zurückzukehren und von da aus ihre Kirche als eine