Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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zurück; Wohlstand und Luxus waren im Ganzen unbekannt und 
Wissenschaft und Kunst überall nur in den ersten Anfängen. So 
drang z. B. die gothische.Baukunst, die in Süd- und Westdeutsch 
land überall die herrlichsten Denkmale christlicher Frömmigkeit schuf, 
nur sehr langsam nach Norddeutschland vor, wo allein in der freien 
Reichsstadt Magdeburg der Dom mit jenen vielen Meisterwerken 
Süd- und Westdeutschlands eine Vergleichung aushält. Schnell 
war nach Süd- und Westdeutschland und ganz besonders auch nach 
den vor allen deutschen Kreisen sich durch treffliche Männer und 
wissenschaftliche Bildung auszeichnenden belgischen Provinzen^ 
von Italien lind Frankreich aus der Geist lebendiger Wissenschaft 
herübergepflanzt worden und fand au der dort erfundenen und 
dort schnell aufblühenden Buchdruckerkunst das herrlichste Mittel zur 
allgemeineren Verbreitung. Das neri erwachte wissenschaftliche In 
teresse ward immer allgemeiner und zeigte sich in den mannichftil- 
tigsten Bewegungen auf Universitäten und in andern Schulen, im 
Leben und in Schriftstellerei. Unendlich viel hat hierzu Erasmus 
beigetragen, der in Belgien, Frankreich und Italien gebildet, sich 
immer in jenen Ländern aufhielt, dessen Grundsätze in Bezug auf 
„Reinigung des Christentums" auf alle seine zahlreichen Schüler 
übergingen und in den reformierten Reformatoren, die dem hoch 
geschätzten Greis bis an sein Ende mit treuer Liebe anhingen und 
ihn gegen „die Schmähungen Luthers", der sich förmlich von ihm 
losgesagt hatte, verteidigten, zuerst die reformatorischen Ideen weck 
ten^), welche sie nachher, freilich anders und kräftiger, als ihr 
Lehrer es gewollt hatte, ausführten. „Das Prinzip, das den 
Erasmus beseelte, war das Streben nach Verbreitung der klassi 
schen Litteratur, wodurch er die in der Kirche herrschenden Irr 
tümer und den Aberglauben zu zerstreuen hoffte"ft. Daher setzt 
er auch die römischen und griechischen Klassiker oft der h. Schrift 
sehr nahe zur Seite und sprach, wie auch sein Schüler 
Zwingli, die edleren Heiden selig, weil er Sittenlehre für 
Religion, das Christentum für das beste M o r a l s h st e m hielt. 
Alle diese Reformatoren waren nun auch als Erasmianer durch 
das Studium der römischen und auch Wohl der griechischen Klassi 
ker gebildet und oft anfangs eben so sehr für die klassische Gelehr- 
1) Merkwürdig ist, daß der einzige aufrichtig die Reformation begehrende 
Papst Hadrian VI. ein Belgier und Professor in Löwen gewesen war. 
2 ) Höchst merkwürdig berührt Melanchthon 1529 diese Differenz der 
Lutheraner und Reformierten in ihrem Verhältnis zu Erasmus: „Wie unver 
ständig sind unsere Gegner: den Erasmus lieben sie, der in seinen Büchern den 
Keim zu vielen Lehren gelegt hat, die vielleicht einst weit bedeutendere Unruhen 
würden erregt haben, wenn nicht Luther ausgestanden wäre und das Streben 
der Menschheit auf etwas Anderes gerichtet hätte. Die ganze Tragödie über das 
Abendmahl kann als von ihm herrührend angesehen werden." 
8 ) „Verbreitung der Wissenschaften" und „Kirchenverbesserung" war ihm das 
selbe ; daher gestand er selbst, 1518, „daß er darum gegen Luther unbillig ge 
wesen sei, daniit ans die schönen Wissenschaften nicht noch mehr böser Schein 
falle;" und Luther mißfiel hinwieder schon 1616 an Erasmus, „daß er Christum 
und die Gnade Gottes nicht genug treibe," „daß ihm Erkenntnis der Gnade 
fehle, und er wohl Irrtümer nachzuweisen verstehe, nicht aber die Wahrheit zu 
lehren."
	        
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