Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

18 
den waren, die, von Italien ausgegangen, sich auch hier Anhang 
verschafft hatten. Wir denken vielmehr „an die alte Opposition 
gegen die römische Kirche," „an die uralte Stimmung gegen den 
römischen Gottesdienst, die Verehrung der Bilder und Reliquien," 
die neben echt christlichem Sinn jene südlichen und westlichen Völ 
ker beseelte und schon lange vor der Reformation jener Menge 
von Ketzern und Schwärmern unter ihnen stets Nahrung gegeben 
hatte. Bayern, Schwaben, die Schweiz und die Länder am Rhein 
bis zu den Niederlanden waren längst angesteckt von mancherlei 
ketzerischen Ideen und unkirchlichen Sekten besonders durch Han 
delsverbindungen mit Italien und Frankreich, wo die Waldenser, 
welche von allen reformierten Kirchen als würdige Vorläufer und 
Muster betrachtet worden, seit Jahrhunderten ihren einfach bibli 
schen und christlichen Sinn bewahrt und verbreitet hatten. Dieser 
unkirchliche Sinn äußerte sich in den allerbeißendsten Sprichwörtern, 
die lange Zeit vor der Reformation in vieler Mund waren?) 
Des Erasmus Spottschriften gegen die römische Kirche und die 
römische Geistlichkeit wurden mit außerordentlichem Beifall auf 
genommen und bestärkten lange vor dem Auftreten Luthers viele 
in ihrem geheimen Widerwillen gegen die römische Kirche und 
weckten die Sehnsucht nach Befreiung von dem päpstlichen Joche 
geistlicher Knechtschaft. Daher war schon vor Luther „Abschaffung 
des Papsttums" und „Reinigung des Christentums" das Losungs 
wort vieler, die dabei an eine neue und kräftige Erbauung der 
christlichen Kirche nicht dachten. 
In Luther, dem gehorsamen und still duldenden Mönche, hatte 
sich die demütige Frömmigkeit des deutschen Volkes gewissermaßen 
konzentriert, und grade daß er sich zur Reformation fast zwingen 
ließ und dabei immer an der unsichtbaren allgemeinen christlichen 
Kirche unerschütterlich festhielt, das erweckte in ganz Deutschland 
und weit über Deutschlands Grenzen hinaus jene ungeheuere Be 
geisterung für den demütigen und doch so kühnen Mönch, machte 
ihn zum alleinigen Mittelpunkt des größten Teils dieser großar 
tigen Bewegung und erwarb der lutherischen Kirche seinen Namen, 
auf den sie stolz sein zu dürfen glaubte. Aber obgleich er getragen 
und gehoben wurde von dem freudigen Beifall seines lieben deut 
schen Volkes, dessen Gemüter er mit fast unwiderstehlicher Gewalt 
allein durch die Kraft des Wortes beherrschte, kam ihm doch nie 
ein Gedanke daran, diese Gewalt äußerlich zu mißbrauchen; son 
dern, im schönsten Sinne des Wortes, Untertan aller weltlichen 
und geistlichen Obrigkeit, unterwarf er sich in schlichter Einfalt in 
allen bürgerlichen Dingen dem Kaiser und seinem Fürsten, ohne 
aus die vielfachen Aufforderungen zu hören, die die Kirchenver- 
befferung bedrohende und hemmende Macht des weltlichen Armes 
mit Gewalt zu hindern und anzugreifen. Ebenso treu hielt er 
l ) Dergleichen schweizerische Sprichwörter sind: „Wer ein guter Christ sein 
will, soll nicht nach Rom gehen. Wer nach Rom geht, lasse die Frömmigkeit zu 
Haus. Wer nach Rom geht, sucht das erste Mal einen Schelmen; das zweite 
findet er denselben, und das dritte bringt er ihn heim. In Rom kann man 
mit dem Zipscl seiner Mütze in der Hölle graben. Zu Rom findet man alles, 
nur keine Frömmigkeit."
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.