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meisten Städten durch die Reformation aus einer mehr aristokra
tischen eine mehr demokratische wurde. So sind alle reformierten
Reformationen vom Volke ausgegangen, in republikanischen Städten
durch dessen Organ, die Obrigkeit; in monarchischen Staaten, in
Frankreich, Niederlanden, Schottland, England und Polen, am
Rhein, unter Widerstand gegen die Obrigkeit. John Knox,
Schottland's Reformator, behauptete ausdrücklich gegen die Königin
Maria Stuart das Recht des Aufstandes und des Kampfes des Vol
kes gegen die Obrigkeit in gewissen Fällen, ein Recht, das in den jetzt
reformierten Staaten immer, in den lutherischen Staaten nie geltend
gemacht und ausgeübt worden ist. Wie die lutherische Reformation in
keinem Staate vom Volke erzwungen worden ist, so ist auch überall,
wo sich das Volk gegen die feindselig gesinnte Obrigkeit auflehnte,
alsbald von einer lutherischen Kirche nicht mehr die Rede, so sehr man
auch anfangs mit Recht die dortigen Reformatoren „Lutheraner"
nannte. Der durch den Druck bis aufs höchste gestiegene Haß ließ
die Protestanten stets den Versuch machen, durch enges Zusammen
halten dem katholischen (oder in England dem monarchisch-hierarchi
schen) Staate einen offenen, geschlossenen und gefährlichen Widerstand
zu leisten, und rief auf der einen Seite die blutigsten, furchtbarsten
und grausamsten Verfolgungen (in Frankreich, Belgien und Eng
land) hervor, oder erzwang den Reformierten volle Anerkennung
als eine im Staate geduldete Korporation (in Frankreich u. Eng
land), oder stürzte die Regenten und deren Kirchengebäude um
(in Holland und England). Schon Franz dem Ersten, der Hein
rich dem Achten in der Reformation nachfolgen wollte, hatte der
päpstliche Nuntius geantwortet: „Sire, das werden Sie zuerst
zu büßen haben; eine neue Religion, die unter das Volk kommt,
hat zur unausbleiblichen Folge die Veränderung des Regiments."
Kostete doch der unaufhörliche Widerstand der nie zu besiegenden
Hugenotten Frankreich 150 Jahrelang unaufhörliche blutige Bürger
kriege, bis zuletzt Ludwig XIV., um nur nicht mehr einen
Staat im Staate, sondern Einheit und absolute Monarchie zu
haben, sich darüber freuen zu dürfen glaubte, daß er eine Million
seiner besten, fleißigsten Untertanen in den Reformierten teils aus
gerottet, teils verjagt hatte.
Man hielt in Frankreich immer den Calvinismus für weit
staatsgefährlicher als das Luthertum und suchte in Ludwig XIV.
Furcht und Entsetzen vor dem Gespcnste des Calvinismus zu er
regen. Bossuet drückte dieses in Gegenwart des Hofes mit den
Worten aus: ,,Les Calvinisies sont plus hardis que les Luthfiriens.“
Immer haben auch die zurückgebliebenen Reformierten in Frank
reich die liberale Oppositionspartei ausgemacht; die französische
Revolution ist wesentlich durch die Verbreitung ihrer Ideen, mögen
sie nun von dem in Genf geborenen Rousseau oder aus dem durch
aus konsequent reformierten Nordamerika hergekommen sein, vor
bereitet worden, und Protestanten nahmen den wesentlichsten Anteil
an ihr, wie auch an der Revolution von 1830, über deren Erfolg
selbst die Gläubigen unter ihnen eine uns Deutschen unangenehm
auffallende Freude äußerten, weil sie endlich das jahrhundertelang