Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

60 
er sich jedoch, wenn wir auf die nächsten 150 Jahre nach seinem 
Tode sehen, bitter getäuscht hat, indein es gleich nach seinem Tode 
in Bezug auf die lutherische Reformation die angelegentlichste 
Sorge der Fürsten so wie der Theologen, der Feinde sowohl als 
der Freunde wurde, das an sich ehrenwerte Prinzip der Stabilität 
bis zur Stagnation festzuhalten und nichts mehr zu ändern, als 
Luther selbst geändert hatte, und alles möglichst in dem bei Lu 
thers Tode befindlichen Zustand zu lassen. Die lutherischen Für 
sten suchten, als Beschützer und Verteidiger der Kirche mit dem 
alleinigen Reformationsrecht und dem landesherrlichen Episkopat 
ausgerüstet, aus Furcht vor neuen Bewegungen und Kollisionen 
mit den anderen Reichsstündcn jede weitere Ausbreitung der Re 
formation nach anderen Ländern und jede innere freiere Aus 
bildung zu hindern, was ihnen auch vollkommen gelang, da die 
Theologen, die Wächter der Kirche, sich nicht nur ihren 
hemmenden Bestrebungen nicht widersetzten, sondern auch selbst, 
in die starrste Lutherolatriech versunken, in ihrem reformatori- 
schen Verfahren gegen das Papsttum, im Wesentlichen um keinen 
Schritt weiter gingen, als die Reformation 1646 oder schon 1630 
gewesen war. Sie hemmten die ganze Entwicklung der Kirche, 
die kaum im Beginn gewesen war, durch starres Festhalten an 
dem Zustande, in welchem Luther sie gelassen; sie führten nach 
dem einstimmigen Zeugnis edler Männer beider Konfessionen ein 
neues Papsttum ein, das nicht viel besser war als das römische, 
und schlossen die lutherische Orthodoxie besonders durch Einsüh- 
rüng der Konkordienformel 1580 in so enge Grenzen ein, daß ein 
nicht unbeträchtlicher Teil der lutherischen Kirche außerhalb dieser 
engen Grenzen bleiben mußte und notgedrungen zum Teil sich den 
Reformierten in die Arme warf. 
Hierzu kamen nun noch die beständigen Angriffe und gewalt 
sam aufgenötigten Vereinigungsvorschläge der Katholiken, welche 
die Lutheraner nicht nur nicht in dem erworbenen Besitz geschützt 
wissen, sondern durch Reaktionsmaßregeln, wenn nicht vollständig 
wieder in den Schoß der römischen Kirche, doch um keinen einzi 
gen Schritt weiterkommen lassen, ja sogar um einige bedeutende 
Schritte zurückdrängen wollten. Durch das von dem Kaiser 1548 
erlassene Augsburger Interim, „nach welchem sich alle Stände cinst- 
0 Man kann sich schwerlich von der alles Maß überschreitenden, allen 
Fortschritt der Reformation gänzlich hemmenden und unter Luthers Buchstaben 
knechtenden Luthcrvlatrie, wie sie 150 Jahre lang getrieben wurde, einen rechten 
Begriff machen. Sein Wort ward nicht nur entscheidende, sondern auch bindende 
Autorität. Man schrieb sogar, weil Luther doch selbst viel freier und hcterodoxer 
gewesen war als die spätere lutherische Kirche, ein Buch: „daß Luther ein echter 
Lutheraner gewesen sei" und unzählige Bücher mit folgende» Ueberschriften; 
„Luther, der Engel mit dein ewigen Cvangelimn in der Apokalypse: Luther ein 
Prophet, nebst Sammlung seiner Weissagungen; Luther mit Abrahmn verglichen ; 
Luther der zweite Mose; der zweite Samuel; der dritte Elia; Luther verglichen 
mit Johannes dem Täufer; mit Johannes dem Evangelisten; mit dem Apostel 
Paulus; Luther ein Märtyrer; ein Heiliger; ein Wundertäter; eine Sonne; ein 
Stern; „der Lichtträger;" man bewahrte von ihm alle möglichen Sachen als 
Religuicn auf, während man von Zwingli und Calvin nichts der Art hat, kaum 
deren Grabmal kennt.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.