Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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nicht nur gar keine Sittenresormation im allgemeinen durchführte, 
sondern auch gar nicht einmal versuchte; Zwingli dagegen und 
seine Freunde und ganz besonders Calvin mit dem ausgezeichnet 
sten Erfolge auf diese ihr vorzügliches Augenmerk richteten. 
Fern sei es von mir, dem lutherischen Glaubensprinzip selbst 
irgendwie Indifferenz gegen die Sittlichkeit oder gar schädlichen 
Einfluß auf dieselbe zuzuschreiben; ich glaube vielmehr, daß ohne 
eine solche! Glaubens grundlage gar keine wahre Sittlichkeit zu 
stande kommt, und die Lehre von der Rschtfertigung allein durch 
den Glauben das kräftigste sittliche Moment in sich enthält. Das 
ioußte auch Luther aus feinem Paulus sehr gut, und es war 
„Luthers größter Kummer und bitterste Klage, daß bei der reinen 
Lehre des Evangeliums sich doch nicht mehr Besserung im Leben 
und nicht mehr rechtschaffene Gottseligkeit bei vielen gefunden." 
Aber demungeachtet hat er selbst diese in seinem Glaubens- 
Prinzip liegenden sittlichen Elemente behufs einer durchgreifenden, 
sittlichen Reformation niemals weiter entwickelt, vielmehr stets 
gemeint, er dürfe und könne noch gar nicht äußerlich Hand anle 
gen zur Umbildung der bürgerlichen und kirchlichen Sitte durch 
deren Durchdringung mit seinem Glaubensprinzip und nach der 
Richtschnur der Gebote Gottes in der heiligen Schrift. Er ver 
traute vielmehr zu sehr auf die innerlich mächtige Kraft des Wor 
tes, des Evangeliums, und auf die Kräftigkeit des Glaubenslebens 
in jedem Einzelnen und in der Gesamtheit, als daß er nicht alles 
von der weitern Entwicklung des Glaubenslebens von innen heraus 
abivarten zu müssen gemeint hätte. Darum legte er als Refor 
mator nie Hand an eine Reformation der Kirche nach ihrer sitt 
lichen Seite, ungeachtet ihn die Böhmischen Brüder, die sich längst 
zu ihrem großen Segen einer lebendigen Kirchenzucht erfreuten, 
ernstlich dazu aufforderten. Er hegte zwar auch dringend den 
Wunsch eines so seinen, züchtigen, äußerlichen Wandels, als er 
von den Böhmen hörte. „Aber wir, schreibt er ihnen, die wir 
mitten in Sodoma und Gomorra und Babylonia wohnen, sehen 
nicht, wie wir möchten einen solchen, feinen, z ü ch t i- 
gen Wandel auswendig anrichten, Gott helfe uns denn besser; 
so haben wir doch die rechte lautere Lehre des Evan 
geliums als einen hellen Lichtstrahl mitten unter diesem ver 
kehrten und unschlachtigen Geschlecht der Finsternis." Er entschul 
digte sich ausdrücklich damit, „daß er die Leute dazu nicht habe." 
Und darin liegt gerade der grundwesentliche Unterschied zwischen 
Luther und den Schweizern, besonders zwischen ihm und Calvin. 
Luther betrachtete die christliche Gemeinde immer als eine erst 
werdende, nicht, wie die Apostel durchgängig und ihnen nach die 
Reformierten, als eine faktisch schon gewordene, schon gerei 
nigte und geheiligte, die nun nur i in E i n z e l n e n zu immer 
vollkommnerer Aneignung des Heils, aber auch zu vollkommnerer 
Haltung des göttlichen Gesetzes anzuhalten wäre. Darum durste 
Luther sich sogar erlauben, gegen die Zwickauer Schwärmer, welche 
auch eine gründliche Sittenreformation und kräftige Kirchenzucht 
forderten, jenen schon erwähnten Satz aufzustellen: „Gott bewahre 
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