Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

— 75 
verdanken hatten. Sie sahen in ihr immer die treue Bewahrerin 
der ihr anvertrauten Offenbarungen Gottes. Aus ihrer Hand 
hatten sie die heilige Schrift empfangen als das geschriebene Wort 
Gottes; sie war Jahrhunderte lang die Trägerin und Verbrei 
terin des Christentums gewesen und hatte ihnen beu Inhalt der 
christlichen Glaubenswahrheiten unverstümmelt überliefert. Das 
erkannten die Lutheraner stets gern an, uub nur das schmerzte die 
lutherischen Reformatoren tief, daß diese Kirche, welche immer 
noch im (toten) Besitz der seligmachenden Wahrheit ivar, diese 
göttliche Wahrheit sich hatte fast gänzlich verdunkeln und gewisser 
maßen mit Menschensatzungen verschütten lassen imb sich nun mit 
solcher Hartnäckigkeit gegen jede wahre, innere Reformation ihres 
furchtbar verderbten Zustandes sträubte. Notgedrungen mußten sie 
sich von der unverbesserten römischen Kirche lossagen und 
erzürnten sich, gerade wegen ihrer treuen Anhänglichkeit an die 
!v a h r e allgemeine (katholische) christliche Kirche, desto heftiger 
über die römischen Papisten, welche durch ihren unüberlegten 
Widerstand gegen jede Verbesserung der wahren christlichen 
Kirche am meisten schadeten. Luther und Melanchthon sahen sehr 
wohl ein, daß die christliche Kirche nicht nur fünfzehn Jahr 
hunderte lang, sondern alle Zeiten hindurch die vou Gott verord 
nete Trägerin des christlichen Geistes und Lebens sein sollte, und 
sie mußten daher, als sie diesen christlichen Geist in der römischen 
Kirche fast gänzlich erstorben oder verschwunden sahen, ihn neu 
beleben, neu wieder einpfropfen durch die Predigt des Evangeli- 
ums. Sie mußten, als die römische Kirche im ganzen einer sol 
chen Forderung einer neuen Belebung sich widersetzte, so viele 
einzelire Teile derselben, als sich für die alte, neubelebte christliche 
Wahrheit empfänglich zeigten, allmählich ju reformieren und da 
durch die wahre, katholische Kirche in ihrer Reinheit und Echtheit 
herzustellen suchen. An dieser auf diese Weise verbesserten 
katholische n Kirche (wie Luther sie viel lieber genannt sah, 
als nach seinem Namen: lutherische Kirche) hielten die Lutheraner 
nun aber fast ebenso fest wie römische Katholiken an ihrer Kirche 
und übertrugen auf diese (lutherische) Kirche ihre aus der römi 
schen Kirche herstammenden Ansichten von der notwendigen E i n- 
h e i t, Allgemeinhei t, kt nfehlbarkeit u n d> 
SCiset n s! eIig m a ch u n g der Kirche und verwarfen imb 
verdammten von diesem Standpunkt aus sowohl die unver- 
befferte, verderbte katholische Kirche, als die in unzählige Sekten 
gespaltene und sogar die allgemeine Kirche als solche angreifende 
reformierte Kirche. Und um nur die Einheit der 
K i r ch e, die ja nur einen Herrn hat, zu erhalten, wel 
ches auch der letzte und einzige Wunsch des sterbenden Melanchthon 
war, taten sie alles Mögliche und boten stets der großen, alten, 
ehrwürdigen römisch-katholischen Kirche unter den billigsten, nach 
giebigsten Bedingungen den Frieden an. 
Der Lutheraner kennt, auf der Basis der geschichtlichen 
Entwicklung stehend, das Christentum überhaupt nur in der 
Form der Kirche; er kann sich kein Christentum außer der
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.