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verdanken hatten. Sie sahen in ihr immer die treue Bewahrerin
der ihr anvertrauten Offenbarungen Gottes. Aus ihrer Hand
hatten sie die heilige Schrift empfangen als das geschriebene Wort
Gottes; sie war Jahrhunderte lang die Trägerin und Verbrei
terin des Christentums gewesen und hatte ihnen beu Inhalt der
christlichen Glaubenswahrheiten unverstümmelt überliefert. Das
erkannten die Lutheraner stets gern an, uub nur das schmerzte die
lutherischen Reformatoren tief, daß diese Kirche, welche immer
noch im (toten) Besitz der seligmachenden Wahrheit ivar, diese
göttliche Wahrheit sich hatte fast gänzlich verdunkeln und gewisser
maßen mit Menschensatzungen verschütten lassen imb sich nun mit
solcher Hartnäckigkeit gegen jede wahre, innere Reformation ihres
furchtbar verderbten Zustandes sträubte. Notgedrungen mußten sie
sich von der unverbesserten römischen Kirche lossagen und
erzürnten sich, gerade wegen ihrer treuen Anhänglichkeit an die
!v a h r e allgemeine (katholische) christliche Kirche, desto heftiger
über die römischen Papisten, welche durch ihren unüberlegten
Widerstand gegen jede Verbesserung der wahren christlichen
Kirche am meisten schadeten. Luther und Melanchthon sahen sehr
wohl ein, daß die christliche Kirche nicht nur fünfzehn Jahr
hunderte lang, sondern alle Zeiten hindurch die vou Gott verord
nete Trägerin des christlichen Geistes und Lebens sein sollte, und
sie mußten daher, als sie diesen christlichen Geist in der römischen
Kirche fast gänzlich erstorben oder verschwunden sahen, ihn neu
beleben, neu wieder einpfropfen durch die Predigt des Evangeli-
ums. Sie mußten, als die römische Kirche im ganzen einer sol
chen Forderung einer neuen Belebung sich widersetzte, so viele
einzelire Teile derselben, als sich für die alte, neubelebte christliche
Wahrheit empfänglich zeigten, allmählich ju reformieren und da
durch die wahre, katholische Kirche in ihrer Reinheit und Echtheit
herzustellen suchen. An dieser auf diese Weise verbesserten
katholische n Kirche (wie Luther sie viel lieber genannt sah,
als nach seinem Namen: lutherische Kirche) hielten die Lutheraner
nun aber fast ebenso fest wie römische Katholiken an ihrer Kirche
und übertrugen auf diese (lutherische) Kirche ihre aus der römi
schen Kirche herstammenden Ansichten von der notwendigen E i n-
h e i t, Allgemeinhei t, kt nfehlbarkeit u n d>
SCiset n s! eIig m a ch u n g der Kirche und verwarfen imb
verdammten von diesem Standpunkt aus sowohl die unver-
befferte, verderbte katholische Kirche, als die in unzählige Sekten
gespaltene und sogar die allgemeine Kirche als solche angreifende
reformierte Kirche. Und um nur die Einheit der
K i r ch e, die ja nur einen Herrn hat, zu erhalten, wel
ches auch der letzte und einzige Wunsch des sterbenden Melanchthon
war, taten sie alles Mögliche und boten stets der großen, alten,
ehrwürdigen römisch-katholischen Kirche unter den billigsten, nach
giebigsten Bedingungen den Frieden an.
Der Lutheraner kennt, auf der Basis der geschichtlichen
Entwicklung stehend, das Christentum überhaupt nur in der
Form der Kirche; er kann sich kein Christentum außer der