Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

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und richten. Darum legen sich nun auch viele Laien auf ein gründ 
liches, genaues und sorgfältiges Bibelstudium; und auch jetzt noch 
zeichnen sich in allen reformierten Ländern, wo es irgendwie 
christliches Leber: gibt, die Laien aus durch eine viele Prediger 
beschämende Bibelkenntnis und sogar auch durch Bibelforschung, 
und haben sich zugleich eine solche Selbständigkeit in ihrem christ 
lichen Leben erworben, daß sie den in England und vorzüglich in 
Schottland allgemein üblichen Hausgottesdienst, der nicht nur, wie 
in der lutherischen Kirche und in der englischen Staatskirche, in 
Vorlesung (der Bibel oder auch von Gebeten) und Gesang (eines 
Psalms), sondern vorzüglich auch in freiem Gebete und Bibel- 
erklärung besteht, als wahre Priester ihres Hauses leiten können. 
Natürlich kann bei dieser Freiheit das öffentliche Lehren eines 
Laien bei den Reformierten lange nicht so erschwert und verpönt 
sein wie bei den Lutheranern, wo dasselbe (und nicht mit Unrecht) 
als ein Zeichen von bedenklicher Anmaßung und gefährlichem 
Hochmut mit dem größten Mißtrauen angesehen wird; wie es denn 
auch, wenn es nicht gehörig geleitet oder zu rechter Zeit unter 
drückt wird, gewöhnlich schlimme Folgen hat und leicht zum Se 
paratismus führt. In der reformierten Kirche fehlt es von vorn 
herein weit weniger an der Berechtigung und Befähigung, an der 
Veranlassung und Aufmunterung zum freien erbaulichen Reden und 
Beten, was aber häufig garnicht den kirchlichen Charakter der 
Konventikel annimmt, sondern unter dem Namen von Betrachtung 
(méditation oder auch réunion), nach apostolischer Sitte, die re- 
I i g i ö s e Seite der Geselligkeit vertritt. Bei der großen Uebung 
in solchen Betrachtungen fällt nicht leicht etwas Störendes vor. 
Ein Schulze in der Schweiz, der dem Separatismus entschieden 
entgegen ist, hielt sonntäglich Versammlungen von 60 bis 100 
Personen und blieb dabei ganz still und demütig; ein Berner 
Patrizier, Präsident der dortigen evangelischen Gesellschaft (wie 
man überhaupt bei allen christlichen Gesellschaften g e r n Laien 
zu Präsidenten macht) hielt ungehindert und unanstößig seine wö 
chentlichen Erbauungsstunden in Bern. Dr. de Valenti, der die 
Erlaubnis zu predigen erhalten hatte, hielt in Basel einen lange 
bestehenden Konventikel; da die Menge der Besucher zu groß wurde, 
räumte man ihm eine Kirche ein, und da er nicht wagte, die Kan 
zel zu besteigen, so führte ihn einst der Pastor selbst auf die Kan 
zel mit den Worten: „Wer predigt, soll auch auf die Kanzel hin 
auf," und so wurde aus dem nicht kirchlichen Konventikel allmäh 
lich eine regelmäßige, sonntägliche, sehr zahlreich besuchte Andacht, 
natürlich zu einer Stunde, wo kein anderer Gottesdienst stattfand. 
In Genf war ich in einer vornehmen Gesellschaft, wo, trotz der 
Anwesenheit zweier Professoren, deren ungebildeter Schüler, ein 
junger, talentvoller, christlicher Kolporteur (Bibelhausierer) die 
Bibel erklärte und ein langes freies Gebet hielt. In einer an 
dern, gottesdienstlichen Versammlung von Independenten hielt der 
selbe,^nachdem der Vorsitzende Prediger einen Abschnitt der heili 
gen Schrift gelesen hatte, mitten aus der Gemeinde heraus ein 
langes Gebet.
	        
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