86
und richten. Darum legen sich nun auch viele Laien auf ein gründ
liches, genaues und sorgfältiges Bibelstudium; und auch jetzt noch
zeichnen sich in allen reformierten Ländern, wo es irgendwie
christliches Leber: gibt, die Laien aus durch eine viele Prediger
beschämende Bibelkenntnis und sogar auch durch Bibelforschung,
und haben sich zugleich eine solche Selbständigkeit in ihrem christ
lichen Leben erworben, daß sie den in England und vorzüglich in
Schottland allgemein üblichen Hausgottesdienst, der nicht nur, wie
in der lutherischen Kirche und in der englischen Staatskirche, in
Vorlesung (der Bibel oder auch von Gebeten) und Gesang (eines
Psalms), sondern vorzüglich auch in freiem Gebete und Bibel-
erklärung besteht, als wahre Priester ihres Hauses leiten können.
Natürlich kann bei dieser Freiheit das öffentliche Lehren eines
Laien bei den Reformierten lange nicht so erschwert und verpönt
sein wie bei den Lutheranern, wo dasselbe (und nicht mit Unrecht)
als ein Zeichen von bedenklicher Anmaßung und gefährlichem
Hochmut mit dem größten Mißtrauen angesehen wird; wie es denn
auch, wenn es nicht gehörig geleitet oder zu rechter Zeit unter
drückt wird, gewöhnlich schlimme Folgen hat und leicht zum Se
paratismus führt. In der reformierten Kirche fehlt es von vorn
herein weit weniger an der Berechtigung und Befähigung, an der
Veranlassung und Aufmunterung zum freien erbaulichen Reden und
Beten, was aber häufig garnicht den kirchlichen Charakter der
Konventikel annimmt, sondern unter dem Namen von Betrachtung
(méditation oder auch réunion), nach apostolischer Sitte, die re-
I i g i ö s e Seite der Geselligkeit vertritt. Bei der großen Uebung
in solchen Betrachtungen fällt nicht leicht etwas Störendes vor.
Ein Schulze in der Schweiz, der dem Separatismus entschieden
entgegen ist, hielt sonntäglich Versammlungen von 60 bis 100
Personen und blieb dabei ganz still und demütig; ein Berner
Patrizier, Präsident der dortigen evangelischen Gesellschaft (wie
man überhaupt bei allen christlichen Gesellschaften g e r n Laien
zu Präsidenten macht) hielt ungehindert und unanstößig seine wö
chentlichen Erbauungsstunden in Bern. Dr. de Valenti, der die
Erlaubnis zu predigen erhalten hatte, hielt in Basel einen lange
bestehenden Konventikel; da die Menge der Besucher zu groß wurde,
räumte man ihm eine Kirche ein, und da er nicht wagte, die Kan
zel zu besteigen, so führte ihn einst der Pastor selbst auf die Kan
zel mit den Worten: „Wer predigt, soll auch auf die Kanzel hin
auf," und so wurde aus dem nicht kirchlichen Konventikel allmäh
lich eine regelmäßige, sonntägliche, sehr zahlreich besuchte Andacht,
natürlich zu einer Stunde, wo kein anderer Gottesdienst stattfand.
In Genf war ich in einer vornehmen Gesellschaft, wo, trotz der
Anwesenheit zweier Professoren, deren ungebildeter Schüler, ein
junger, talentvoller, christlicher Kolporteur (Bibelhausierer) die
Bibel erklärte und ein langes freies Gebet hielt. In einer an
dern, gottesdienstlichen Versammlung von Independenten hielt der
selbe,^nachdem der Vorsitzende Prediger einen Abschnitt der heili
gen Schrift gelesen hatte, mitten aus der Gemeinde heraus ein
langes Gebet.