Full text: Die religiöse Eigentümlichkeit der lutherischen und der reformierten Kirche

7 
anders gruppierte und man sich freudig mit den Glaubensgenossen 
der andern Partei gegen die Glaubensgegner aus der eigenen 
Partei vereinigte: — desto größer mußte auch das Bedürfnis 
werden, diejenigen, denen man so nahe gekommen, mit denen man 
gegen einen gemeinsamen, gefährlichen Feind so enge verbunden 
war, gründlich kennen zu lernen nach allen guten und schlechten 
Seiten, um dann auch ihre eigentümlichen Ansichten und Urteile 
verstehen zu können. So lange dieses Bedürfnis nicht befriedigt 
ist, so lange wird man sich immer nur halb verstehen oder gänzlich 
mißverstehen, weil man ohne Erkenntnis der Eigentümlichkeit der 
eigenen und der anderen Kirche nicht begreifen kann, warum der 
nahe Freund bei aller sonstigen Einigkeit doch oft eine so verschie 
dene Sprache spricht, so verschiedene Ansichten hat und an unbe 
deutenden Sachen mit scheinbar unüberwindlichem Eigensinne 
festhält. 
Eine solche Vergleichung der beiden Kirchen ist aber in un 
sern Tagen erst möglich geworden, teils im allgemeinen durch 
die größere Annäherung der Völker zu einander, teils dadurch, 
daß man nun, nach versuchter und wirklich vollzogener Union, die 
ßeibeu Kirchen zusammen hat, und sie nun ein Mitglied der unier- 
ten Kirche unparteiisch, der Wahrheit gemäß, vergleichen kann. 
Freilich müssen wir, um die religiöse Eigentümlichkeit der beiden 
Kirchen gründlich kennen zu lernen, die beiden Kir 
chen möglichst wieder auseinander halten, ihre Verschieden 
heiten möglichst scharf ins Auge fassen und dieselben, ohne die 
an sich schon hinlänglich anerkannten Aehnlichkeiten her 
vorzuheben, überall bis in die äußersten Spitzen verfolgen und die 
Unterschiede so deutlich und wichtig machen, daß alle Versuche, 
deren es genug mißlungene gegeben hat, die Verschiedenheiten 
äußerlich auszugleichen, zu attemperieren, zu neutralisieren, 
zu ignorieren, um dadurch eine Union beider Kirchen zu stände 
zu bringen, als unverständig und unmöglich erscheinen müssen. 
Wir hoffen aber durch unsere Vergleichung dazu beizutragen, daß 
jede Kirche zu gründlicher Erkenntnis ihrer eigentümlichen 
Vorzüge und Mängel, sowie der eigentümlichen Vorzüge und 
Mängel der anderen Kirche gelange, sich dadurch in ihrer 
Einseitigkeit begreifen lerne, und so auch dem Verstände die 
Notwendigkeit einer Ergänzung durch die andere Kirche klar werde, 
nachdem das Herz das Bedürfnis darnach längst gefühlt hat; 
damit dann die verschiedenen, aber nicht mehr geschiedenen Schwestern 
nach langer Trennung in heiligem Geiste sich vor dem Herrn ver 
einigen und gemeinschaftlich von ihm und durch einander sich 
segnen lassen. 
Wir haben hiermit zugleich den Zweck unserer Untersuchung 
angegeben; er ist: Verständigung über beide Kirchen behufs gegen 
seitiger Anerkennung und behufs ihrer Ausbildung zur Union. 
Was ist Union, dieses in unseren Tagen viel besprochene 
und doch so wenig verstandene Wort? Was heißt Union der bei 
den evangelischen Konfessionen? Wir antworten kurz: Union 
(Vereinigung) ist nicht Einheit, nicht Versöhnung, nicht Ausglei
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.