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3 nn erliche Frömmigkeit.
Sv wie wir dem Prinzip, dem Verfahren und der äußern
Erscheinung nach an der lutherischen Kirche einen vorherrschend
k i r ch- liche n, an der reformierten einen vorherrschend u n k i r ch-
l i ch e n, aber entschieden biblischen Charakter gefunden ha
ben, so müssen wir auch, wenn wir nun auf den die ganze Kirche
durchdringenden innersten Lebenssaft achten, die christ
liche F r ö m m i g k e i t der lutherischen Kirche als eine k i r ch-
I i ch e, die der reformierten als eine biblische bezeichnen, d.
h. das Bewußtsein um Christus und das Verhältnis zu ihm hat
sich dort vorzugsweise durch die Kirche und am Kirchenglauben
entwickelt und hier vorzugsweise durch die Bibel und den Bibel
glauben. Eine bejonbere Begründung dieser Behauptung würde
mir nach dem bisher über die beiden Kirchen iin allgemeinen Ge
sagten fast überflüssig erscheinen, wenn nicht wiederum ein näheres
Eingehen auf die verschiedene Gestaltung der individuellen
Frömmigkeit die wesentlichen Verschiedenheiten der beiden Kirchen
überhaupt von einer neuen Seite her und mehr im Einzelnen be
leuchten würde. Aus diesem vorherrschend kirchlichen Charakter der
lutherischen Frömmigkeit folgt unmittelbar, daß sie zugleich
mehr eine objektive, gemeinschaftliche inner-
l i ch e, in ihrer Ausartung abergläubische und Pietist!-
s ch e ist, die reformierte dagegen mehr eine subjektive, in
dividuelle, äußerliche oder praktische, in ihrer
Ausartung u »gläubige, schwärmeris ch e und s e k-
t i e r e r i s ch e ist. Die lutherische Frömmigkeit erscheint nach
ihrer Lichtseite: als wohlbewußter, freier Gehorsam gegen die
Kirche als einer Stiftung Jesu Christi, und gegen bereu Diener,
solange sie nichts gegen das, Wort Gottes lehren; nach ihrer
Schattenseite: als bewußtloser, unfreier Gehorsam gegen die Kir
che, die als solche, als eine göttliche Anstalt, alle, die sid)- äußer
lich zu ihr halten und ihre Vorschriften befolgen, wenn auch! nicht
schon in diesem Leben, so doch gewiß jenseits durch ihre Ver
mittlung, wie durch einen von Gott selbst eingerichteten Mechanis
mus, selig machen werde. Die reformierte Frömmigkeit erscheint
nach ihrer Lichtseite: als wohlbewußter, freier Gehorsam gegen
die heilige Schrift, als das Wort Gottes, und gegen die Kirche
nur, solange sie schriftgemäß bleibt; nach ihrer Schattenseite: als
eigensinniges ȟb kleinliches Kleben am Buchstaben der heiligen
Schrift, als des Wortes Gottes, dessen äußerliche Anerken
nung und genaue Beachtung, auch wenn das Herz noch keineswegs
im innersten Wesen umgewandelt ist, von Gott nach seiner Zusage
mit der ewigen Seligkeit belohnt werde.
In der Kirche sieht der Lutheraner die von Gott angeordnete
Bewahrerin und Ausspenderin der göttlichen Gnade und ihrer
Geheimnisse; sic hat ihn gleich bei seiner Geburt liebend in ihren