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Zentrum und Judentum.
In einer Schrift, die den Weg des Zentrums be
schreiben will, kann eine Aeußerung über ein Thema
modernster Problematik, über die Stellung des Juden
tums, nicht fehlen.
Nichts charakterisiert das Angefressensein der
modernen Mentalität so eindringlich, wie die Tatsache,
daß aus dem militärischen und politischen Zusammen
bruch der Nation der Judenhaß sich wie eine Brunst
und Seuche ausbreitete. Der Kulturhistoriker steht vor
der betrübenden Erscheinung, daß menschlicher Haß und
menschliche Leidenschaften in Zeiten seelischer Locke
rungen sich nahezu widerstandslos der Gemüter be
mächtigen und Besonnenheit und Gerechtigkeit aus der
Pflicht zu sachlichem Urteil ausscheiden.
Bei all den großen Erschütterungen der vergange
nen Jahrhunderte sehen wir immer Judenverfolgungen
als Begleiterscheinungen. Schon bei dem durch Nero
veranlaßten Brande Roms erkennen wir die Ablen
kung auf die Juden — die Christen galten in der
Oeffentlichkeit als eine jüdische Sekte —, ein Vorgang,
der sich in der Folge bei Eruptionen politischer oder
wirtschaftlicher Art oder Seuchenperiodizitäten mit
mathematischer Genauigkeit wiederholt.
So konnte es nicht wundernehmen, daß nach dem
Krieg und der Revolution der Antisemitismus mit un
geahnter Heftigkeit auftrat. War er doch schon lange
vorher sorgsam gepflegt worden in Parteikonventikeln