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Ethik und Geschichtsphilosophie.
sondere. In Staat, Gesellschaft und Ökonomie, aber auch
in Wissenschaft und Kunst kehrt das gleiche Problem
wieder. Die sog. natürlichen Normen sind um nichts fester
begründet als die sog. übernatürlichen, und das Bemühen,
die einen von der anderen Seite her zu begründen, ist eine
Illusion, bei welcher Seite man auch zuerst einsetzen möge.
Mit alledem ist die ganze Frage gar keine bloß persönliche
Problemstellung, sondern ein Problem der allgemeinen
Zeitlage. Diese ist selbst in tiefster innerer Erschütterung
und Wandlung auf fast allen Gebieten und zugleich be
gleitet von einer fast beängstigenden Hellsichtigkeit der
historischen Reflexion und Vergleichung.
In diesem Umstande ist es begründet, daß heute ge
schichtsphilosophische Erwägungen wieder eine Rolle
spielen, wie vor und nach der französischen Revolution,
wie im Zeitalter Rousseaus, Voltaires und Herders und
dann im Zeitalter Hegels und Comtes. Nur ist inzwischen
der historische Horizont noch sehr viel weiter geworden
in Raum und Zeit und ist unsere Erkenntnis der Ver
gangenheit viel differenzierter, genauer und sachlicher ge
worden. Vergleichende und evolutionistische Betrachtun
gen von den Primitiven der Eiszeitalter bis zu der modern
sten europäischen und asiatischen Kultur, von Australien
und Innerafrika bis nach Europa, Amerika und Ostasien
erfüllen heute die Literatur. Die Mannigfaltigkeit und
Bewegtheit dieses historischen Vergleichungsmaterials hat
erst ungeheuer interessiert und die Seelen ausgeweitet, so
lange sie sich leicht in evolutionistische Fortschrittsreihen
einreihen ließ und unsere eigene Position auf der Höhe des
Fortschritts uns nicht zweifelhaft war. Aber je schwieri
ger schließlich die Konstruktion jener Entwicklungsreihen