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II. Die schlechten Ordnungen in Polis und Seele
stimmte Einzelne das Ziel ihres Strebens in der äenkbar perfekte-
sten Weise erreichen. Sokrates’ Oligarchie legt den Oligarchen
beim. Streben nach Reichtum kein Hindernis in den Weg (vgl.
555c1-5. 556a4-b4); seine Demokratie bietet ein.derartiges Maß
an Freiheit, daß selbst noch rechtskräftig Verurteilte sowie Skla-
ven und Tiere tun, was sie wollen (558 a4-8. 563b4-d1); dem
sokratischen Tyrannen schließlich wird die erfolgreiche Beseitigung
aller Gegner und Konkurrenten, die Loyalität seiner Söldner und
die erfolgreiche Unterdrückung der ganzen übrigen Polis’ konze-
diert, um vor diesem Hintergrund des vollständigen Erreichens sei-
ner Ziele sein Unglück desto eindringlicher gestalten zu können.
Damit dieses Gedankenexperiment möglich wird, bedarf es‘. der
Einbeziehung der politischen Macht. Denn nur Bürger, über denen
nicht Gesetze und Regierungen stehen, können die Ziele ihres
Strebens auch dann weitestgehend erreichen, wenn es sich um die
falschen Ziele .handelt. Das Gedankenexperiment, Menschen’ in
vollendeter Weise ans Ziel ihrer Wünsche gelangen zu lassen, um
daran zu sehen, ob sie das richtige Ziel verfolgt haben, dessen
Erreichen sie wirklich glücklich macht, bedarf der Herstellung des
geeigneten gesellschaftlich-politischen Rahmens.
Denn die in den vier schlechten Ordnungen erstrebten Güter ha-
ben ‚ein gemeinsames Charakteristikum: Sie sind nicht teilbar. Im-
mer strebt; wer nach ihnen strebt, auch.nach dem Vorteil vor an-
deren, nach der Pleonexie: Überlegen sein kann man nur, wo an-
dere unterlegen sind; das Streben nach Reichtum läßt andere ver-
armen (555c1-d6 u.a.); die uneingeschränkte Freiheit z.B. der
Jungen und Starken, zu tun, was sie wollen, bedroht Ältere und
Schwächere und zwingt sie zu unwürdigem Verhalten
(562e7-563b2); das Streben des Einzelnen nach unumschränkter
Macht schließlich .versklavt die ganze übrige Polis (S69b.6-c4
u.a.). Nicht jedes Strebem ist von Natur aus ungerecht; ein Ge-
genbeispiel ist das Streben des gerechten und philosophischen
Menschen, das Streben nach ‘Erkenntnis (vgl. 349b1-d2). Denn
Ruhm, Geld, Freiheit und Macht werden verringert, wenn man sie
teilt; Erkenntnis hingegen läßt sich ohne Schmälerung, und oft so-
gar mit Gewinn, teilen.?%® Hinter der Darstellung. der‘ vier schlech-
ten Ordnungen in der ‘Politeia’ steht eine Konzeption von vier tv-
242 Erkenntnisstreben und Freude am Lehren gehören zusammen, nicht aber
Geldstreben und Freude am Geldverteilen.