Full text: Dialogform und Argument

2,1 
III, Der Wandel der Ordnungen 
Ad 4: Ein Kreislauf der Verfassungen kommt in der “Politeia’ 
nicht vor, weder in einer ‚großen‘ noch in einer ‚kleinen Form‘. 38° 
Die Idee eines solchen Kreislaufs hat im Text der ‘Politeia’ kei- 
nerlei Grundlage und widerspräche auch ihrer darstellerischen In- 
tention. 3% Ob Platon eine solche Idee in der Tradition vorgefun- 
den hat, ist mindestens sehr zweifelhaft;?% daß er sie in der ‘Po- 
liteia’ nicht verwendet, ist jedenfalls klar.’ Wahrscheinlicher ist, 
daß die Vorstellung eines ‚Kreislaufs der Verfassungen‘, wie 
manch andere Vorstellung von der ‘Politeia’, einfach auf eine 
Fehlinterpretation zurückgeht: 
389 7u dieser Unterscheidung s. Ryffel [1949] 101-104 mit Anm.253. Der 
kleine Kreislauf käme durch ein direktes Umkippen der Tyrannis in die gute 
Ordnung, der große durch den Weg über bestimmte Zwischenstadien zustande. 
390 Siehe oben S.126. — Von Kreisläufen wird in der ‘Politeia’ dreimal ge- 
sprochen: Die gute Ordnung kreist, einmal entstanden, in sich selbst und hat 
keine Verschlechterung zu befürchten (424 a4-b2); für alle Lebewesen gibt es 
Kreisläufe (Zyklen) von Fruchtbarkeit und Unfruchtbarkeit (546 a4-7); in der 
Spindel der Notwendigkeit drehen sich die acht Himmelskörper im Kreislauf 
(616 c7-617b 7). In Zusammenhang mit den Verfassungen ist von einem Kreis- 
lauf niemals die Rede. 
391 Diese Möglichkeit erwägt Ryffel [1949] 102f., der ebenfalls betont, daß 
Platon diesen Zug der traditionellen Theorie (sofern es ihn gab) in ‘Politeia’ 
VIIN-IX unterdrückt haben müßte. Für denkbar hält Ryffel [1949] 102 Anm.252 
eine solche Vorstellung bei Hippodamos oder Protagoras; Anhaltspunkte dafür 
Fehlen freilich. Das Verfahren, eine nirgendwo nachweisbare Vorstellung den- 
noch zu postulieren, bei Platon, bei dem sie ebenfalls nicht nachweisbar ist, 
aber für nur unterdrückt zu erklären, erscheint wenig fruchtbar. — (Nur zur 
Sicherheit erwähne ich Herodot I 207, wo die Rede vom xüxAo6 TÖV 
üv0ownrniwv nur bedeutet: es geht auf und ab.) 
392 Dies darf mittlerweile als communis opinio gelten: s. etwa Fritz [1954] 
66; Vretska [1958 a] 73f.; Friedländer [1964/75] III 108; Janke [1965] 259; 
Fuks [1977] 53; Romilly [1977] 9-11; Hellwig [1980] 52f. u.a.; ein Gegenbei- 
spiel ist Maurer [1970] 154f. — Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein (und auch 
noch für Popper [1950]: vgl. Anm.348) war die Vorstellung, in “‘Politeia’ 
VHI-IX sei ein ‚Kreislauf der Verfassungen‘ dargestellt, die gängige; im 19. 
Jahrhundert war man, wie Ryffel [1949] 103 Anm.252 als Kuriosität anmerkt, 
sogar bestrebt, die historische Korrektheit des vermeintlichen Kreislaufs zu ve- 
rifizieren. Die aristotelische Unterstellung, der sokratische Verfassungswandel 
solle geschichtliche Realität darstellen (vgl. oben S.140-143), war dabei 
längst als Faktum anerkannt.
	        
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