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HI. Der Wandel der Ordnungen
An der ‘Nomoi’-Stelle wird der Terminus ‚Tyrann‘ in seiner übli-
chen, d.h. seiner politischen Bedeutung benutzt: ‚Tyrann‘ ist dort
der Inhaber einer bestimmten politischen Stellung; diese Stellung
präfiguriert indes nicht unabänderlich die charakterlichen und son-
stigen Eigenschaften ihres Inhabers.** In der ‘Politeia’ hingegen,
in der auch andere politische Termini zu Spielarten der Ungerech-
tigkeit umgedeutet sind,“*® steht der Begriff ‚Tyrann‘ für den Cha-
raktertypus, der hinsichtlich seiner Schlechtigkeit und Ungerech-
tigkeit den Extremfall unter allen ungerechten Charakteren dar-
stellt.*% Die Machtstellung, in den ‘Nomoi’ der entscheidende Be-
standteil der Aussage, ist beim ‚tyrannischen Menschen‘ in der
‘Politeia’ verzichtbar und keineswegs notwendiger Bestandteil sei-
ner Charakterisierung. 7 In wie unterschiedlichem Sinn die Be-
griffe an den beiden Stellen verwendet werden, zeigt auch die
Tatsache, daß der tyrannische Mensch (und erst recht der amtie-
rende Tyrann) in der ‘Politeia’ gerade dadurch gekennzeichnet ist,
daß er seinen niedersten und verworfensten Trieben und Begierden
wehrlos ausgeliefert ist (574e2-575a7 u.a.); die Rede von einem
‚besonnenen Tyrannen‘, wie sie in den ‘Nomoi’ erfolgt, wäre in der
‘Politeia’ schlechterdings absurd. — Mit anderen Worten: Hinter
identischen Bezeichnungen stehen in ‘Nomoi’ und ‘Politeia’ ganz
und gar verschiedene (und im Grunde unvereinbare) Konzeptio-
nen.*8 Die Kombination von ‘Nomoi’ 709e6-712a3 mit Aussagen
zum Tyrannen der ‘Politeia’ kann daher nur auf Holzwege führen,
404 Auch dann nicht, wenn man die Erfahrung einbezieht, daß der Besitz un-
umschränkter Macht leicht korrumpiert. Der Erfahrungssatz duldet Ausnahmen.
Andernfalls wären die Attribute, die der Athener bei dem jungen Tyrannen in
den ‘Nomoi’ für denkbar hält, in Wahrheit undenkbar.
405 Siehe Kap. IV, G.
406 Vgl. S.204f., mit Anm. 562.
407 Für das tyrannische Wesen der Seele ist es unerheblich, ob sein Träger
Tyrann ist oder nicht. Käme ein solcher Mensch auch noch in das Amt und die
Machtposition des Tyrannen, so würden seine charakterlichen Defizite durch
die Verführung der Macht natürlich noch verstärkt, und der Betreffende würde
noch unglücklicher (575a9-d2. 576b4-10. 578b4-579d4). Tyrannisch im
Sinne der ‘Politeia’ aber ist er auch, wenn er keinerlei politische Macht be-
sitzt.
408 Vgl. oben Anm.199. Angesprochen, aber nicht präzis auf den Punkt ge-
bracht ist der Sachverhalt bei Kraut [1992] 326.