E. Die Herstellung der Analogie
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und ihre Lokalisierung in bestimmten Organen kann sich die Drei-
zahl kaum ergeben haben.*® Und auch in Sokrates’ eigener For-
mulierung deutet nichts darauf, daß eine Dreizahl seelischer In-
stanzen längst bekannt ist.%67
Sokrates selbst leitet die Dreizahl der Seeleninstanzen aus einer
Analyse menschlicher Verhaltensweisen her, und manche Interpre-
ten sind dazu bereit zu attestieren, es sei dieses Argument gewe-
reisch, aber keiner der angeblich pythagoreischen Belege (Philolaos VS 44 B13
und Pl.Grg.493 a 3-4) läßt wirklich auf eine Dreiteilung der Seele schließen
(siehe Dodds [1959] 300; Classen [1959] 21 Anm.4; 22 Anm.1). Daß die doxo-
graphische Tradition über die pythagoreische Dreiteilung der Seele in Wahrheit
auf früh einsetzende Platoninterpretation zurückgeht, hat Burkert [1962] 65f.
überzeugend gezeigt; entsprechendes gilt wohl für die angeblich pythago-
reische Lehre von den drei Lebensformen (Burkert [1960]). Klarerweise führen
auch die Anekdoten bei Cicero ‘“Tusculanae disputationes’ IV 10 und V 8 nicht
auf sicheren Grund. Siehe auch Rees [1957].
466 Apelt [1923] 448 Anm.46 schlägt als Ankniüpfungspunkt für die Dreizahl
der Seeleninstanzen die physiologische Lokalisierung von Seelentätigkeiten,
z.B. in Gehirn (vgl. Alkmaion VS 24 A5), Herz (vgl. Empedokles VS 31 B 105)
oder Leber vor (weitere Belege: VS Bd.II 480f.). Diese Erklärung ist minde-
stens aus zwei Gründen unwahrscheinlich: Erstens dürften physiologische An-
nahmen über den Ort der Seele, die bei den experimentellen Möglichkeiten der
vorsokratischen und klassischen Medizin auf rein spekulativer Basis ruhten,
Seelenvorstellungen nicht geprägt haben, sondern von ihnen beeinflußt sein;
man wird kaum der Seele Teile zusprechen, weil man sie in unterschiedlichen
Organen ansiedelt, sondem sie deswegen auf mehrere Organe verteilen, weil
man ihr Teile zuschreibt. Zweitens wurden die genannten Lokalisierungen der
Seele in den (undeutlich bleibenden) vorsokratischen Theorien offenbar nicht
kombiniert, sondern als Alternativen behandelt. Dies gilt jedenfalls für die vier
Erklärungen, die Sokrates in Phd.96b3-8 referiert (Mittel des Denkens sei
entweder Blut. oder Luft oder Feuer oder das Gehirn); auf eine Dreizahl seeli-
scher Instanzen deutet an dieser Stelle nichts. Anders steht es in Ti.69c 5-72
48, wo aber die Dreizahl der Seeleninstanzen klarerweise aus der ‘Politeia’
vorausgesetzt ist (vgl. Taylor [1928] 496); hier liefert nicht die physiologische
Erklärung ein Seelenmodell, sondern ein vorgegebenes Seelenmodell wird phy-
siologisch ‚eingepaßt‘.
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X\öyov. — xal &uol Soxel, En. — Einen Hinweis auf eine bereits bekannte
Dreizahl seelischer Instanzen hätte sich Sokrates hier sicherlich nicht entgehen
lassen.