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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele
dere Unterscheidungskriterien und nennt andere Gründe für die
Unterschiede zwischen den Menschen. 5% Wieder anders konzipiert
scheinen die ‚unbestimmt vielen und unterschiedlich beschaffenen‘
Seelentypen, die der wahre Rhetor nach einer anderen Aussage im
‘Phaidros’ einerseits kennen, andererseits im konkreten Gegenüber
wiedererkennen muß, um jeden Menschen in der für ihn wirkungs-
vollsten Weise ansprechen und beeinflussen zu können;5°® klarer-
weise hat auch diese Einteilung mit dem Schema der ‘Politeia’
nichts gemein.®%® Sokrates verwendet also in verschiedenen Dialo-
gen und gelegentlich sogar in verschiedenen Partien desselben
Dialogs unterschiedliche, aber stets kontextbezogene Typolo-
gien. 504
Der relevante Unterschied zwischen den Menschentypen der ‘Po-
liteia’ betrifft das langfristige handlungsleitende Streben, das mit
der ‚Herrschaft‘ unterschiedlicher seelischer Triebkräfte erklärt
wird; andere Unterschiede bleiben demgegenüber sekundär.°° Je-
doch resultiert aus einem bestimmten Streben allein nicht schon
drei ‚Haupttypen‘ in R.581c 3-4. Und diese Aussage betrifft nicht nur die Ein-
zelheiten, sondern auch das hinter der Einteilung stehende Prinzip. — Fast hat
man den Eindruck, Platon wolle geradezu demonstrieren, daß jede Einteilung
allein in ihren Kontext gehört.
501 Jm ‘Phaidros’ werden die Unterschiede zwischen den Charaktertypen auf
zwei Ursachen zurückgeführt (nach Heitsch [1993a] 96f. mit Anm.145): a)
Der Typus des Menschen bestimmt sich danach, welchem der elf Götter seine
Seele während ihrer Präexistenz gefolgt ist (246e4-247a7. 250b6-8.
252c3-253c6); b) er bestimmt sich danach, wieviel die Seele während ihrer
Präexistenz gesehen hat (248 c 2-e 3).
502 Phdr.270 b 1-272b 6; dazu Heitsch [1993 a] 168-184.
503 Dies zeigt die einfache Überlegung, daß Menschen, die nach den Krite-
rien des ‘Phaidros’ (Empfänglichkeit für rhetorische Mittel) unterschiedlichen
Seelentypen zugehören, nach den Kriterien der ‘Politeia’ (Formen der Unge-
rechtigkeit) ohne weiteres ein und denselben Seelentypus repräsentieren kön-
nen, Dasselbe gilt umgekehrt. Vgl. Solmsen [1983] 363.
504 Auch das berühmte, an die Dreiteilung der Seele in ‘Politeia’ IV zwar er-
innernde Bild vom Seelengespann (ein Lenker plus zwei Pferde) in ‘Phaidros’
246a6-256e2 paßt jedenfalls nicht zur Typologie der Seelenordnungen in ‘Poli-
teia’ VIII-IX: Sonst müßte beim oligarchischen Menschen das schlechte Pferd
sein Mitpferd samt Lenker ‚beherrschen‘ (vgl. R.553b7-d7), und beim demo-
kratischen und tyrannischen Menschen wäre das schlechte Pferd zu zerteilen.
505 Zur sogenannten ‚Herrschaft‘ seelischer Instanzen und ihrer Kopplung
mit persistenten Bestrebungen und festen Glückskonzeptionen s.u. S.223f.