G. Die Konzeption der politischen Ordnung
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Staat und Gesellschaft. 2? Er bezeichnet die Stadt (ursprünglich:
die Stadtburg) als Siedlung, als autonomes politisches Gemeinwe-
sen (Stadtstaat, evtl. mit Hinterland), die Gemeinschaft der Bür-
ger, die politische Rechte besitzen, aber auch die Gesamtheit der
Bewohner einer Stadt. Ein adäquater Begriff, der all diese
Aspekte der Polis umfaßt, existiert in den modernen Sprachen
nicht: Bei ‚Stadt‘ (und Äquivalenten in anderen Sprachen) fehlt für
heutiges Empfinden vor allem der Aspekt des autonomen politi-
schen Gemeinwesens;°24 ‚Staat‘ führt durch die andersartigen Kon-
notationen des modernen Staatsbegriffs in die Irre: ‚Stadtstaat‘
522 Umfassend zur griechischen Polis Ehrenberg [1965] 32-125 und Meyer
[1968] 68-119; konzentriert auf den politischen Aspekt Welwei [1983] 9-19;
vgl. W. Nippel, Hist.WB.Philos., Art. ‘Polis’; Bleicken [1994] 561f. — Zur
„Identität von Staat und Gesellschaft, mindestens soweit es sich um die Bürger
allein handelte“, Ehrenberg 108 und M. Riedel, Hist. WB. Philos., Art. ‚Gesell-
schaft, bürgerliche‘; Historiker sprechen nicht selten von einer ‚Polisgesell-
schaft‘ (z.B. Gehrke [1985b]. Zum Auseinandertreten der Begriffe s. Sartori
[1992] 274f. — Daß sich Staat und Gesellschaft bereits in der athenischen
Demokratie voneinander lösten, in der gleiche politische Rechte in offensicht-
licher Weise gegen ungleiche geselischaftliche Möglichkeiten (der Reichen und
Armen) standen, hebt Meier [1980] 40 hervor; begrifflich hat sich die faktisch
eintretende Differenzierung zur Zeit der klassischen Polis darin niedergeschla-
gen, daß politische Termini wie Demokratie und Oligarchie (in propagandisti-
scher Absicht) mit sozialen Komponenten verknüpft wurden (Herrschaft der Ar-
men vs, Herrschaft der Reichen); diesen Sprachgebrauch nutzt Sokrates in
550c4-551b7, um unverfänglich eine inhaltlich ungewöhnliche Konzeption der
Oligarchie einzuführen (vgl. oben S.142f.).
523 1LSJ s.v. m6öAıs II; Dunmore [1961] 174. 198; Ehrenberg [1965] 107f.;
Schütrumpf [1991a] 173. II 385f. 405-407; vgl. z.B. 369b5-c4. 417b5-6.
543c3. 552a9
524 So Schütrumpfs zentrales Argument für die Übersetzung ‚Staat‘ (Schü-
trumpf [1991a] 173f.). Im Kontext der aristotelischen ‘Politik’ ist die Frage
(aus mehreren Gründen) sicherlich anders zu beurteilen als im Kontext der ‘Po-
liteia’.
525 Die Polis ist primär ein Personenverband, der Staat hingegen „die politi-
sche Organisation eines bestimmten Territoriums“: Meyer [1968] 68. Während
der Staat und seine Bürger sich als eigenständige Größen (mit unterschiedli-
chen Interessen) gegenüberstehen können, sind die Polis und ihre Bürger iden-
tisch. So kann Nikias bei Thukydides VII 77, 7 seinen verzweifelten atheni-
schen Mitbürgern auf Sizilien ermunternd zurufen: ‚Wir sind die Polis‘ (@vöpec
yo nÖlLG, xal 00 TELXN 0USE VNEG AvöQw@v xeEval; vgl. 77, 4); im Deutschen
kann man zwar sagen: ‚Wir sind das Volk‘, aber kaum: ‚Wir sind der Staat‘.
Vgl. Platonbelege wie Lg.829b2-3, femer die aristotelische Definition in
Pol.1274b41 MM yo nölhlc nolALtÖv tı mANOOCc Eotıv) sowie die von Schü-