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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele
ordnung mit verbrieften Rechten der Bürger kennt die Antike
nicht. Die ‚Verfassung‘, von der im platonischen Dialog gespro-
chen wird, ist die Ordnung der Polis in einem umfassenden Sinn,
der die heute geläufigen politischen und staatsrechtlichen Unter-
scheidungsmerkmale ebenso einschließt wie den Aufbau der Ge-
sellschaft und die Werte, Normen, Regeln und Lebensumstände
der Bürger in der Polis.°°* Während politische Theoretiker wie
Aristoteles den Terminus, den man sich inhaltlich zunächst noch
relativ offen vorstellen darf, bevorzugt auf das eigentlich politi-
sche Terrain, die Frage nach der Verteilung, Organisation und
Ausübung der Macht anwenden und so seine Bedeutungsbreite all-
mählich einschränken. setzt Sokrates in der ‘Politeia’. schon um
534 Die den Rahmen des ‚Politischen‘ sprengende Verwendung des Begriffs
‚politeia‘ (xoAtteia), die sich in der Politeia’ etwa in 557a9-b 1 belegen läßt,
findet sich nicht nur bei Platon: In der von Thukydides gestalteten Rede des
Perikles (II 37 ff.) wird unter dem Stichwort ‚politeia‘ „der gesamte Lebensstil
Athens beschrieben“ (Schütrumpf [1991 b] 151); entsprechendes gilt für Xeno-
phons Abhandlung über die ‘Politeia der Lakedaimonier’ und die unter Xeno-
phons Namen überlieferte ‘“Politeia der Athener’ (wozu Bordes [1982] 139-203);
die (nur noch in Resten kenntlichen) sogenannten ‘Politeiai’, die Platons Ver-
wandter Kritias abgefaßt hat, enthielten u.a. Aussagen über lakonische und
athenische Trinkgebräuche, die Verschwendungssucht der Thessaler, die Art
der in Sparta benutzten Gewänder und Schuhe u.ä.: siehe VS 88 B 6. 31-37.
Aristoteles definiert in Pol.1274b38: 4 5£ mxoAliteia TÖV IHV NMÖALV OLXOUVEWV
ori tAEıcs tıc. — Die normative Bedeutung von ‚politeia‘ (vgl. Lg. 715b 2-6.
832b 10-c 3) spielt in der ‘Politeia’ keine tragende Rolle. Die Frage, ob auch
schlechte Ordnungen die Bezeichnung moAıteiaL verdienen, wird nirgendwo ge-
stellt (übertrieben daher Bordes [1982] 388-390), und auch die Tyrannis wird
ohne Bedenken den nmoAıtsiar zugeschlagen (544a3 etc.); freilich läßt sich
auch feststellen, daß der Begriff bei der Darstellung der Tyrannis in auffälliger
Weise vermieden wird. — Zu moAıteia vgl. neben Bordes [1982] auch Schotten
[1966] 29f.; J. Ritter, PhJ 74, 1966/7, 240f.; Ch. Meier, Hist.WB.Philos.,
Art. ‚Politeia‘; Schütrumpf [1991 b] 150-152 (mit weiterer Literatur).
535 Siehe etwa Arist.Pol. 1290a7-11 modıteia uev yo A Tüv doxXÖVv TAELG
tori, TaUtAG SE SıavemovraL NdvtEG N xatd TIHV düvayıy TÖV METEXOVTWV N}
Kata TLV’ aUTÖV LOÖTNTA XoLWIV, AEym 5° olov tüv An6gwv N TOV EOnOpwV N
xoLviiv TtLvV’ dugoiv. Daneben ist auch noch bei Aristoteles die umfassendere
Bedeutung von nolıteia gut belegbar; als Beispiel nenne ich Pol.1264b31:
MoAıteia ist dort „nicht im engeren Sinne ... die Verfassungsordnung, die den
jeweiligen politischen Souverän bestimmt ..., sondem die Gesellschaftsordnung
und Einteilung der Berufsgruppen“ (Schütrumpf [1991b] 218); ferner Ryffel
[1949] 173-179. — Vermutlich zu pauschal engt Schöpsdau [1994] 93 Anm.2
und 350 den Terminus nolıtsia auf die Frage ein, wer herrschen solle, In der
'Politeia’ jedenfalls unterscheiden sich die xoAıteiat primär nicht nach der