Full text: Dialogform und Argument

G. Die Konzeption der politischen Ordnung 
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Damit ist noch nicht die Richtung der Übertragung erklärt. Denn 
Sokrates hätte denselben Effekt erzielt, wenn er, statt vom olig- 
archischen Menschen, von der geldgierigen Polisordnung gespro- 
chen hätte. Die Vorteile der gewählten Lösung liegen jedoch auf 
der Hand: 
* Der Sinn des Analogieverfahrens ist unmittelbar einsichtig, 
wenn man von den politischen Termini ausgeht; es ist bezeich- 
nend, daß Sokrates im Fall der schlechten Ordnungen auf eine Be- 
gründung, wie er sie in 368c7-369a3 liefert, verzichten kann. 
Auch die gewünschte Richtung des Analogieschlusses ergibt sich 
daraus wie von selbst. Dem Partner einsichtig zu machen, daß 
man, um die geldgierige Seele beschreiben zu können, von der 
geldgierigen Polis ausgehen müsse, wäre schwieriger gewesen. 
* Nur die politischen Adjektive liefern präzise Ausgangspunkte. 
Mit Ordnungen wie der Oligarchie verbinden sich klare Vorstellun- 
gen, an die ‚man anknüpfen kann. Von einer ‚geldgierigen Polis‘ 
kann man sich ganz unterschiedliche Vorstellungen machen. 
* Auf der seelischen Seite war die resultierende Unbestimmtheit 
hingegen gerade von Vorteil. Während man mindestens hätte er- 
läutern müssen, weshalb eine allgemein bekannte Charaktereigen- 
schaft wie ‚Geldgier‘ an eine ganz spezifische Seelenordnung ge- 
bunden sein sollte, boten die in ihrer psychologischen Verwendung 
nicht präfigurierten politischen Begriffe quasi eine tabula rasa, in 
die man die originelle sokratische Seelenkonzeption einzeichnen 
konnte: 559 
* Nicht zu vergessen ist der seit Buch I vorgegebene Anknüp- 
fungspunkt, der sich im Begriffspaar ‚Tyrann‘ und ‚Tyrannis‘ bot. 
Er präfiguriert auch die Anlage des sokratischen Gedankenexperi- 
ments, aus der sich weitere Motive für die gewählte Lösung er- 
schließen lassen. 
(etc.) einander ähnlich sein müssen, ist Voraussetzung von Passagen wie z.B. 
553e1-554a1. 555a8-b2. 562a1-3. — Vgl. dazu oben Abschnitt B. 
559 Eigenschaften wie Ehrgeiz, Geldgier und Streben nach Ungebundenheit 
sind auch vor Abfassung der ‘Politeia’ längst bekannt, ohne daß man sich doch 
veranlaßt sah, sie mit der Herrschaft von Seeleninstanzen in Verbindung zu 
bringen. Es wäre daher nicht ohne weiteres einzusehen, daß man wirklich die 
sokratische Seelenkonzeption benötigt, um diese Eigenschaften zu verstehen. 
Mit der Konzeption einer ‚oligarchischen‘ oder ‚demokratischen‘ Seele betrat 
Sokrates hingegen Neuland, das entsprechend besetzt werden konnte.
	        
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