Full text: Dialogform und Argument

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IV. Die Analogie zwischen Polis und Seele 
Ad 2: Nur die eigentümliche Konzeption der sokratischen Ver- 
fassungen ermöglicht das Gedankenexperiment, unterschiedliche 
Formen der Ungerechtigkeit ihre Ziele in perfekter Weise errei- 
chen zu lassen, um dadurch ihr Scheitern beim Erreichen des ei- 
gentlichen Ziels, den Menschen glücklich zu machen, umso ein- 
drucksvoller vor Augen zu führen. 
Vorgegeben ist die besondere Verwendung der politischen Ter- 
mini bereits in Buch I mit der von allen Beteiligten getragenen 
Identifizierung des extrem ungerechten Menschen mit dem Tyran- 
nen (344a3-c 4). Wenn der extrem ungerechte Mensch mit einer 
Verfassungsform assoziiert wird, dann erscheinen entsprechende 
Assoziationen bei milderen Formen der Ungerechtigkeit nur konse- 
quent. 
Hinter der Konzeption des vollendet ungerechten Menschen als 
Tyrannen steht die Überlegung, daß Ungerechtigkeit im allgemei- 
nen gesellschaftlich sanktioniert ist, wodurch ihr Spielraum be- 
schränkt bleibt (vgl. 358 e3-359b5). Wer also im Gedankenexpe- 
riment vorführen möchte, wie sich ungehemmte Ungerechtigkeit 
auswirkt (und daß sie sich nachteilig auswirkt), muß den unge- 
rechten Menschen an eine Position versetzen, die ihn aller Ein- 
schränkungen durch geltende Gesetze und Normen enthebt: er 
muß ihn an die Spitze der Polis stellen. Nur wer politische Macht 
besitzt, kann sein ungerechtes Lebensideal, das ihn zwangsweise 
in Konflikt mit anderen Mitgliedern der Polisgemeinschaft bringt, 
verwirklichen. Dies gilt, wenn man mehrere Formen der Unge- 
rechtigkeit unterscheidet, für jede dieser Formen. Immer müssen, 
wie sich aus dem Gedankenexperiment ergibt, die Träger des un- 
gerechten Handelns die Möglichkeit erhalten, die Ziele ihres Stre- 
bens tatsächlich zu erreichen; nur so kann man belegen, daß es 
die falschen Ziele waren. 51 | 
Denkbar wäre es gewesen, die ungerechten Lebensformen an- 
statt mit unterschiedlichen politischen Systemen mit unterschiedli- 
chen Ausprägungen der Tyrannis zu assoziieren. Sokrates hätte 
dann mehrere Typen des Tyrannen unterscheiden müssen, etwa 
den ruhmsüchtigen, den geldgierigen und den machtgierigen. Der 
Nachteil dieser Alternative liegt darin. daß sie zuletzt vor die 
560 Und es zudem, wie Thrasymachos in 338 e 1-339a4 hervorhebt, für ge- 
recht erklären. Vgl. Ryffel [1949] 46-48. 
561 Zur Anlage des Gedankenexperiments auch oben S.91-98.
	        
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