G. Die Konzeption der politischen Ordnung
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müßte freilich eine Alternative angeben können, die auf glaubwür-
dige Weise: die Erreichung all der argumentativen und darstelleri-
schen Ziele erlaubt hätte, die Platons Sokrates faktisch er-
reicht.°% Um der aufgezeigten, nicht unbeträchtlichen Vorteile
willen, die sich ihm mit dieser Anlage des Arguments boten,
scheint Platon Mißverständnisse, wie sie die Deutung der ‘Politeia’
seither allerdings tatsächlich weitgehend bestimmt haben, in Kauf
genommen zu haben. 568
tate in zwar einleuchtender Weise, aber doch sekundär mit den politischen
Namen assoziiert hat (vgl. Anm. 495). Dann können aber auch die ersten bei-
den zitierten Sätze Nettleships nicht richtig sein; dies sind sie m.E. auch des-
wegen nicht, weil in der ‘Politeia’ erklärtermaßen ein anderes als das von N.
genannte Ziel verfolgt wird.) Als unzutreffend zu streichen ist ferner “inevita-
bly’; die jeweiligen ‘results in society and individual life’ sind zwar außeror-
dentlich suggestiv geschildert, aber dennoch alles andere als zwangsläufig.
Nettleships Erklärung bedeutete gegenüber seinen Vorgängern einen erhebli-
chen Fortschritt und stellte manches richtig. Der Versuch, sich über Platons
Arbeitsweise (und Platons darstellerische Aufgaben) klarzuwerden, wird auch
heute noch selten unternommen (vgl. etwa S.130f.) und ist als solcher bereits
zu würdigen. Daß Nettleship manchen älteren und wohl unzutreffenden Vor-
stellungen verhaftet blieb, schmälert nicht sein Verdienst.
566 Eine solche Altemative schlägt Hellwig [1980] 6 vor, die damit zugleich
ain Argument gegen eine Abkopplung der Verfassungsnamen von der geschicht-
lich-politischen Realität formuliert: „Weshalb sollte Platon die Verfassungen
mit Hilfe der Namen so eindeutig mit geschichtlichen Verfassungen korrelieren,
wenn es ihm auf dieses Erfahrungswissen gar nicht ankommt? Er hätte das je-
weilige e780g dann auch anders, etwa nach den dominierenden Seelenkräften,
benennen können.“ Hellwig übersieht dabei, daß die dominierenden Seelen-
kräfte keineswegs vorgegeben sind, sondern selbst erst mit Hilfe des Analogie-
schlusses von der Polis auf die Seele gewonnen werden müssen (vgl. oben Ab-
schnitt E); ihr Hinweis liefert also ‘keine wirklich gangbare Möglichkeit. —
Zu Hellwigs Argument, Name und €Ld0g seien gekoppelt (wozu vgl. ihre Ar-
veit 166-168) oben Anm.217.
567 Auch im dritten Buch der ‘Nomoi’ kennzeichnet Platon „die einzelnen
Kulturstufen mit Verfassungsnamen. Das hat von jeher zu Mißverständnissen
geführt und scheint auch Platon selbst nicht völlig befriedigt zu haben“: Ryffel
[1949] 113 (der daraus schließt, Platon schöpfe aus einer traditionellen Theorie
vom Wandel der Verfassungen). Schöpsdau [1994] 351 spricht von einem „hi-
storischen Abriß der Entstehung und Entwicklung sozialer Organisationsfor-
men“,
568 Rechnen durfte Platon allerdings wohl mit wiederholter und gründlicher
Lektüre des Dialogs (nicht: von Übersetzungen) im ganzen (vgl. Kap.VI, C);
auf die Idee, daß man aus dem großangelegten Argument ‚zentrale Partien‘
auskoppeln und als eigenständige ‚Abhandlungen‘ lesen könne, wäre Platon