V. Seele und Seeleninstanzen
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Gespräch selbst psychagogischer Natur und kann geradezu als ein
Ringen um die Seele bestimmter Personen bezeichnet werden. ©?
Sokrates entwirft in der ‘Politeia’ unterschiedliche Bilder von der
Seele;°0 grundlegend aber ist, insbesondere in den Büchern IV,
VII und IX, das Bild von der Seele als ‚Polis im kleinen‘. Dieses
Bild ergibt sich letztlich aus dem von Sokrates gewählten Verfah-
ren des Analogieschlusses von der Polis auf die Seele, das oben in
Kap.IV näher beleuchtet ist.°%1 Aus der Analogie zwischen Polis
und Seele ergibt sich auch die Konzeption der sokratischen See-
leninstanzen, für die sich freilich in der epischen Tradition An-
knüpfungspunkte finden (A). Daß damit nicht eine in sich konse-
quent ausgearbeitete (platonische) Seelenlehre vorgetragen wird,
zeigen gewisse Verschiebungen, die sich mit den jeweiligen argu-
mentativen Bedürfnissen erklären lassen; wie die ‚historischen‘ und
‚politischen‘ Aussagen sind in der ‘Politeia’ offenbar auch die ‚psy-
chologischen‘ zweckgerichtet und ins sokratische Argument funk-
tional eingebunden (B).
Die ‚Psychologie‘, die in der ‘Politeia’ entwickelt wird, ist origi-
nell und offenbar speziell für die argumentativen Belange dieses
Dialogs_geschaffen; in späteren Dialogen spielt Platon auf sie an,
Sachverhalte ergeben sollen, sondern etwa auch hinter den langen Ausführun-
gen zur Erziehung der Wächter (Bücher II-IV), zur Ausbildung der Philosophen
(Buch VII) sowie hinter den Schilderungen von der Vermittlung falscher Werte
und Normen durch die Eltern, die Menge, anonyme Verführer oder durch die
Dichtung (Bücher VIII-X). — Ein weiteres, damit in Verbindung stehendes
Thema, das Kephalos bereits in 330 d 4-331a3 anschneidet, Sokrates dann im
Schlußmythos des Dialogs aufgreift (614a5-621d3), ist das Schicksal der
Seele im Jenseits, das letztlich ebenfalls von der (gerechten oder ungerechten)
Seelenordnung des betreffenden Menschen bestimmt ist; um den Mythos zu er-
möglichen, wird ihm ein Beweis für die Unsterblichkeit der Seele vorgeschaltet
(608 c1-611b8). — In einem gewissen Sinn ist die ‘Politeia’ also ein Ge-
spräch über die Seele und über diejenigen seelischen Sachverhalte, die über
Glück und Unglück des Menschen entscheiden.
599 Vgl. Kap.I1, B.
500 Neben dem Bild von der Seele als ‚Polis im kleinen‘ (wozu gleich unten)
etwa das Bild von der Seele als Geschöpf, das drei andere Geschöpfe, zwei
Tiere und den ‚inneren Menschen‘ in sich birgt (588b10-592b6). — In
511b9-612a7 wird von einem Gestaltwandel der unsterblichen Seele nach der
Trennung vom sterblichen Körper gesprochen, was die zuvor entworfenen Bil-
der von der Seele jedenfalls ins Ungewisse zieht.
601 Zur Herleitung des Bilds von der Seele s. insbesondere Kap.IV, E.