B. Zur sogenannten ‚Psychologie‘ der ‘Politeia’
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nach Ruhm und Überlegenheit, formal nach Dingen, die es für gut
und wertvoll hält; das triebhafte Element strebt material nach
Dingen wie Speise, Trank, Liebesgenuß oder auch nach Geld (als
Mittel zum Zweck), formal nach Triebbefriedigung (Lust). Allein
das vernünftige Element also strebt nach Wissen um das Gute
und nach dem, was für alle Instanzen gut ist. Daher nützt seine
‚Herrschaft‘ der ganzen Seele, und allein aus diesem Grund kann
seine Herrschaft — im Gegensatz zu der aller übrigen Instanzen
— auf Überzeugung basieren; daraus aber ergibt sich die ‚Ein-
trächtigkeit‘ der entsprechend verfaßten Seele, die ihrerseits einen
wesentlichen Bestandteil des Glücks bildet. °7
Dieses eingängige Schema haben die Interpreten aus dem Text
längst herauspräpariert.°°® Im Dialog selbst wird es allerdings
durch mindestens zwei Faktoren verunklärt: Erstens impliziert die
oben in Abschnitt A entwickelte Differenzierung zwischen Antrie-
ben des Typs 2a und solchen des Typs 2b auch eine Uneinheit-
lichkeit in der Konzeption der Seeleninstanzen; zweitens bleibt
die Zahl der Triebkräfte in der Seele selbst innerhalb des Dialogs
nicht konstant.
Ad 1: Der vernünftige Antrieb, das Aoyıotıxöv, setzt sich als
Ziel die Erkenntnis des Guten. Zwischen spontanen Wünschen und
langfristigem Begehren braucht es, theoretisch zumindest, keine
Diskrepanzen zu geben, weil im Streben nach dem Guten die
657 Die ‚politische‘ Konzeption der Seele, die mit Elementen wie ‚Herr-
schaft‘, ‚Überzeugung‘, ‚Konsens‘ und ‚Einheit‘ operiert, ist somit eine wich-
:ige Grundlage für die Konzeption des individuellen Glücks (vgl. S.177 f.).
658 Etwa Reeve [1988] 135: “Appetite is the locus of good-independent des-
ires, the natural objects of which do not have the good of the psyche or any of
its parts as components. Aspiration is the locus of part-good-dependent des-
ires, the natural objects of which have the good of only part of the psyche as
a component. Reason is the locus of whole-good-dependent desires, the nat-
ural objects of which have the good of the whole psyche and its parts as a
zomponent”; vgl. Reeve [1988] 118-169 (vor allem 135-140). Ähnlich schon
Irwin [1977] 192, der freilich zugibt, Platons Beschreibung sei “not as clear
and systematic as it should be, or as this division might make it look.” — Un-
präzise ist allerdings der von Reeve verwendete Ausdruck %ocus’: Nirgendwo
gelten das Aoyıotıx6v und das @uuoeLötg als Ort von Triebkräften; sie sind
Triebkräfte. Nur beim &m8uvuntıx6öv steht es anders; der Unterschied verweist
auf eine Inkonsistenz der sokratischen Darstellung, die Reeve durch seine For-
mulierung verdeckt (s.u. S.238-240).