240
V. Seele und Seeleninstanzen
Bestreben sein, einen offenen Widerspruch zu der in Buch IV auf-
gestellten Behauptung zu vermeiden, in der Seele gebe es ebenso-
viele Instanzen wie in der Polis Stände. 83
Im zweiten und dritten Glücksbeweis ist die Unterteilung des
Exı9uunteLXOV stillschweigend zurückgenommen; dies zeitigt die
bemerkenswerte Konsequenz, daß der intendierte Vergleich zwi-
schen dem vollendet gerechten und dem tyrannischen Menschen
dort gar nicht vorgenommen werden kann und durch einen Ver-
gleich zwischen dem philosophischen und dem ganz allgemein
triebhaften Menschen ersetzt wird.°%* Und in Buch X wird, um
zeigen zu können, daß Dichtung sich an die unvernünftigen An-
triebe in der Seele wendet, nicht etwa an die vorausgegangene
Einteilung der Seeleninstanzen angeknüpft, sondern die für das Ar-
gument erforderliche Differenzierung erneut hergeleitet; dabei er-
gibt sich diesmal freilich eine Zweiteilung (602 e 8-603 a 9).°85
x x %
Um angesichts solcher Verschiebungen, die schon innerhalb ein
und desselben Dialogs auftreten, eine auf systematische Geschlos-
senheit bedachte platonische Lehre von der Seele zu postulieren,
muß man offenbar nicht nur bereit sein, argumentative Leerstellen
durch eigene Imagination zu füllen, sondern, um gravierende Rei-
bungspunkte zu entfernen, vermutlich auch einen Teil des Befunds
ausblenden. °° Noch deutlicher werden die Schwierigkeiten, wenn
man andere Dialoge einbezieht. Die unterschiedlichen Bilder von
der Seele, die in verschiedenen Dialogen entworfen werden, sind
683 Vgl. auch oben S.60-62.
684 580c 9-587a6 (dazu den Kommentar).
685 In der Literatur finden sich dazu Stellungnahmen wie die von Vretska
[1958 a] 623 Anm.19: „Platon unterscheidet hier nur zwei Teile der Seele, den
vernünftigen und den nichtvernünftigen. Damit greift er auf jene Teilung der
Seele zurück, von der er in Buch IV ausgegangen ist (439 d), bevor er noch den
dritten Seelenteil (den muthaften) ausgesondert hat. ... So ist also diese Tei-
lung der Seele nicht etwas Neues, was Früherem widerspricht, sondern nur die
für die jetzige Untersuchung geeignete besondere Sicht“ etc. Implizit sagt
Vretska damit, daß die Einteilungen der Seele in der ‘Politeia’ offenbar auch
vom intendierten Argument bestimmt sind; explizit vertritt er freilich stets die
Ansicht, in der ‘Politeia’ verkünde Platon seine persönlichen philosophischen
Überzeugungen (passim). — Zur Zweiteilung vgl. auch Anm. 476.
686 Solche Reibungspunkte kommen auch unten S.271-278 zur Sprache.