A. Beweisziel und Aufbau des sokratischen Arguments 15
Um gegen jeden Zweifel deutlich zu machen, daß das Gerecht-
sein selbst, nicht etwa eine Belohnung dafür, zur Debatte steht,
konstruiert Glaukon in Gedanken einen Extremfall, der die übli-
cherweise angenommenen positiven Folgen des Gerechtseins nicht
nur ausschaltet, sondern sogar durch (unverdiente) negative Folgen
ersetzt: Der vollendet gerechte Mensch soll nicht nur nicht be-
lohnt, sondern unter falschem Verdacht sogar mit Marter und Tod
bestraft werden; der vollendet ungerechte hingegen, als dessen
Verkörperung der Tyrann angesehen wird, soll nicht nur ungestraft
bleiben, sondern auch noch mächtig, reich und umjubelt sein.“
Unter diesen extremen Umständen soll das Gerechtsein sich als
etwas erweisen, das immer und in jedem Fall lohnt
(360 e1-362c 8). (Dieser Gedanke der Prüfung am Extremfall
liegt später sowohl der Konstruktion der vollendet guten als auch
der Konstruktion der vollendet schlechten Ordnung zugrunde; vgl.
etwa 427e6-8. 434e1-2. Und auch in den drei Glücksargumenten
am Ende von Buch IX werden einander nur die beiden Extreme
gegenübergestellt. 3)
32 „Die Idee der Isolierung der Extreme zwecks einfacherer Entscheidung
über Glück und Unglück“ geht schon auf Thrasymachos zurück (Stemmer [1988]
562 mit Belegen). Bereits Thrasymachos selbst setzt dabei den vollendet unge-
rechten Menschen mit dem Tyrannen gleich (344a3-b1. 348 d5-9). Zur da-
hinterstehenden Überlegung vgl. unten S.204.
33 In 360e1-3 erklärt Glaukon die Prüfung am Extrem für unverzichtbar:
„Das richtige Urteil über das Leben der Menschen, von denen wir sprechen
[sc. des gerechten und des ungerechten], werden wir dann fällen können, wenn
wir den gerechtesten und den ungerechtesten einander gegenüberstellen, anders
aber nicht“ (tv 88 xpgiowv auıtV TO Biou nEoL @Vv AEyouev, Ev SıadotnoGueba
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34 Daraus ergibt sich die Frage, aus welchem Grund Sokrates neben dem ex-
trem ungerechten Menschen noch drei andere ungerechte Menschentypen ent-
wirft und darstellt: dazu in Kap.Il. — Weiterhin kann man sich fragen, wo
Sokrates der Aufgabe, das Glück des Gerechten selbst unter den von Glaukon
geschilderten Umständen nachzuweisen, tatsächlich nachkommt. Die Vorgabe,
daß der Gerechte zu Unrecht leidet, wird weder in den drei Glücksargumenten
(576 b 11-588 a 11) noch im folgenden Bild von der Seele (S88b1-592a6) be-
rücksichtigt; erst in 612e2-614a4, wo Belohnung und Bestrafung (nach Ab-
schluß des geforderten Arguments) wieder einbezogen werden dürfen
(612a8-e1), wird sie mit dem Hinweis aufgenommen, derartiges könne sich
angesichts der Fürsorge der Götter in Wahrheit nicht ereignen. Diese Zusiche-