1. Das sokratische Argument
B. Der Charakter des sokratischen Arguments
Das sokratische Gespräch ist, wie in Abschnitt A ausgeführt, kein
Lehrvortrag. Dennoch ist ein gewissermaßen ‚lehrhafter Duktus‘ in
den Büchern II-X nicht zu verkennen. Greifen läßt sich dieser
Duktus zum einen (und vor allem) in der Tatsache, daß Sokrates
in der ‘Politeia’ nicht (nur) fremde Thesen widerlegt, sondern eine
eigene These verficht, zum anderen im offensichtlichen Ungleich-
gewicht der Gesprächsbeiträge der unterschiedlichen Figuren. Frei-
lich belegen diese Phänomene nicht, wie man gemeint hat, daß in
‘Politeia’ II-X dogmatische Ansichten vorgetragen werden, sondern
sie finden ihre Erklärung, wie ich meine, in der verhandelten Sa-
che und der Konstellation des Gesprächs.
Bereits in Buch I hat sich die ungewöhnliche Situation ergeben,
daß Sokrates, der in anderen platonischen Texten sein Unwissen
behauptet und meist nur die Rolle des fragenden und prüfenden
Elenktikers übernimmt — auch in der ‘Politeia’ ist diese Attitüde
bekannt (337a3-7. e1-3) —,® hier Stellung bezieht, sich klar zu
einer These bekennt und diese These expliziert und verteidigt.
Die Frage, ob es sich lohnt, gerecht zu sein, ist für Sokrates
nicht eine offene Frage, die er prüfen will, sondern sie ist für ihn
von vornherein entschieden.®? Sokrates ist nicht neutral, sondern
er ergreift entschlossen Partei.
Freilich vertritt Sokrates seine These nicht mit dem Anspruch
des Wissens. Nirgendwo beansprucht er für sich den Besitz des
zweifachen Wissens, dessen es, wie er selbst ausführt, zur Klä-
rung der Frage, ob Gerechtigkeit gut ist, bedarf: des Wissens um
58 In Platons frühen und auch in manchen späteren Dialogen tritt Sokrates
als derjenige auf, der Definitionen, in der Regel die Bestimmung ethischer Ge-
genstände (z.B. Tapferkeit, Besonnenheit, Frömmigkeit), einfordert und auf
ihre Richtigkeit hin überprüft. Dabei enthält sich Sokrates selbst aller poSiEven
Aussagen. Geprüft werden nur die Meinungen der anderen, die sokratische
Meinung kommt nicht zur Sprache. Analysiert hat dieses sokratische Verfah-
ren, den sogenannten Elenchos, Stemmer [1992 a] 72-151.
59 In 545a8-b 1 formuliert Sokrates freilich so, als sei der Ausgang der Prü-
fung ungewiß. Dort bezieht sich Sokrates auch ein in die Gruppe derjenigen,
deren Entscheidung für Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit noch aussteht. Bei-
des ist wohl als vertrauensbildende Maßnahme anzusehen. Denn Sokrates muß
die Frage für sich längst entschieden haben — wie sein Leben beweist (s.u.)-