Full text: Dialogform und Argument

I. Das sokratische Argument 
Platon ist also nicht bestrebt, das Paradoxe der Situation, daß So- 
krates die Gerechtigkeit empfiehlt — und angesichts der vom Au- 
tor geschaffenen Ausgangssituation empfehlen muß —, ohne sie 
doch mit dem Anspruch sicheren Wissens empfehlen zu können, 
zu verdecken, sondern er läßt die Paradoxie deutlich erkennen. !°® 
Weshalb aber hat er diese paradoxe Situation geschaffen? 
Rein pragmatisch läßt sich mit der rhetorischen Gegenfrage ant- 
worten, welche Alternativen sich geboten hätten. Platon hätte 
entweder seinen Sokrates (oder eine andere Figur) mit dem An- 
spruch sicheren Wissens vom Guten ausstatten müssen — oder 
aber auf die Abfassung des Dialogs verzichten, womit er aber 
auch auf die Vermittlung des sokratischen Programms und zahlrei- 
cher Anregungen und methodischer Hinweise verzichtet hätte. Pla- 
tons Entscheidung erscheint angesichts dieser Alternativen jeden- 
falls nachvollziehbar. 1% 
Daß der von Platon gewählte Weg dennoch mehr sein dürfte als 
nur eine darstellerische Notlösung, zeigt folgende Überlegung:!® 
Kaum jemand — vielleicht niemand — unter den Menschen ver- 
fügt tatsächlich über gesichertes Wissen vom Guten, aber trotz- 
dem muß sich jedermann für (echte oder vermeintliche) Güter 
entscheiden. Jedermann fällt Urteile über das für ihn Gute und 
Nützliche, wählt verfolgenswerte Ziele und gibt seinem Leben 
eine Richtung. Mit anderen Worten: Nicht nur das von Platon ge- 
staltete Gespräch über richtige und falsche Lebensführung, son- 
dern das menschliche Leben selbst ist eine Improvisation. Das 
Paradoxon, das dem sokratischen Argument in der ‘Politeia’ zu- 
Gründen, die teilweise auch in der ‘Politeia’ selbst kenntlich werden, unwahr- 
scheinlich (genannt sind solche Gründe bei Stemmer: s.u. Anm. 105). 
102 Vol. auch eine Passage wie 392a3-c5. 
103 Die Annahme, Platon verzichte in der ‘Politeia’ auf eine definitive eigene 
Antwort, um stattdessen immerhin den Weg zu verdeutlichen, auf dem die 
Frage zu beantworten wäre, gleicht die ‘Politeia’ anderen platonischen Dialo- 
gen an: „Die methodischen Überlegungen gewinnen in den Dialogen bisweilen 
eine solche Dominanz, daß die Diskussion der eigentlichen Themafrage hinter 
ihnen zurücktritt und fast in Vergessenheit gerät. Häufig ist die Sacherörterung 
am Ende eines Dialogs noch weit davon entfernt, ihr Ziel erreicht zu haben, 
oft ist nur diskutiert, auf welchem Wege die Themafrage angegangen werden 
muß“; Stemmer [1992a] 271. 
104 Die Anregung zu der folgenden Überlegung verdanke ich einem Hinweis 
von Peter Stemmer.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.