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II. Die schlechten Ordnungen in Polis und Seele
zweiter Stelle und als zweitbeste gepriesen eine Ordnung, die voll
ist von Mängeln, bekannt aber. unter dem Namen Oligarchie; als
nächste kommt dann ihre. Rivalin, die Demokratie, und schließlich
die großartige und all diese übertreffende Tyrannis, die vierte und
schlimmste Krankheit einer Stadt.“ ©
Was wie eine bloße Aufzählung klingt, entscheidet in Wahrheit
über die‘ Rangordnung "der Verfassungen und damit über den Ver-
lauf des Verfassungswandels. Nirgendwo im Dialog.wird die Rang-
ordnung der. Verfassungen eigens thematisiert; die hier wie neben-
bei eingeführte Reihenfolge bleibt undiskutiert und ist endgültig.
Das sokratische Vorgehen ist allerdings‘ erstaunlich: Während
Sokrates die Zustimmung seiner Partner sonst auch bei Fragen von
geringem Gewicht oder bei schieren Selbstverständlichkeiten ein-
holt, trifft er hier eine Festlegung, die den ganzen folgenden Be-
weisabschnitt (rund anderthalb Bücher) bestimmt, in verdeckter
Weise und ohne jede Rückfrage. Nicht minder erstaunlich ist frei-
lich, daß Sokrates nicht nur bei den (von Platon gelenkten) Part-
nern, sondern auch bei den Interpreten und Kommentatoren dieser
Passage, soweit ich sehe, keinerlei Verwunderung geerntet hat.
Wie gelingt es Platons Sokrates, seine Setzung derart selbstver-
ständlich erscheinen zu lassen, daß ihre Willkürlichkeit bis heute
kaum bemerkt scheint?
Sokrates verwendet hier eine Gesprächstaktik, die offenbar zwei
Schwerpunkte hat: Erstens und vor allem bleibt die Setzung als
solche den Partnern unbemerkt; erst im Fortgang des Gesprächs
erweist sich, daß die Reihenfolge der Aufzählung zugleich die
Rangfolge der Ordnungen und die Stationen des Verfassungswan-
dels angibt, und daß diese Punkte nirgendwo mehr thematisiert
werden. Wären. die Partner über die Relevanz und Reichweite der
hier eingeführten Reihenfolge unterrichtet, hätte sich eine Begrün-
dung wohl kaum vermeiden lassen.!79 .
Zweitens sucht Sokrates aktiv den Eindruck zu vermitteln, die
gewählte Reihenfolge verstehe sich von selbst:17!
170 Bekannt sein kann die Relevanz der Reihenfolge hingegen dem Leser, der
den Dialog bereits kennt und ihn zum wiederholten Male liest oder sich vorle-
sen läßt. Mindestens er sollte hier Fragen stellen (vgl. unten S.284-288).
1 Daß sie dies auch aus Platons Sicht nicht tut, zeigt z.B. die andersartige
Rangordnung im .‘Politikos’. Lisi [1985] 303-305 diskutiert die Abweichung
(wie allgemein üblich) unter der Prämisse, die Äußerungen der platonischen
Dialogfiguren seien als platonische Überzeugungen zu verstehen. In eine an-