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„Eoldncr Mann", sagte sie, „ich habe die Nachtigall wieder gefangen. Sei
nicht mehr böse; es war recht häßlich von mir!"
Da sah der Mann seine Frau zum ersten Male iviedcr freundlich an, und
wie er sie ansah, meinte er, daß sie noch nie so hübsch gewesen wäre, wie in
diesem Augenblicke. Er nahm ihr den kleinen Vogel auö der Hand, hielt ihn sich
wieder dicht vor die Nase, besah ihn sich von allen Seiten, schüttelte den Kopf
und sagte dann: „Kindchen, du hattest doch recht! Jetzt sehe ich's erst; es ist
wirklich nur ein Spatz. Es ist doch merkwürdig, wie sehr man sich tauschen kann."
„Männchen," erwiderte die Frau, „du sagst mir das bloß zu Liebe. Heute
sieht mir der Vogel wirklich selbst ganz wie eine Nachtigall auö."
„Nein, nein!" siel ihr der Mann ins Wort, indem er den Vogel noch ein
mal besah und laut lachte. „Es ist ein ganz gewöhnlicher — Gelbschnabel."
Dann gab er seiner Frau einen herzhaften Kuß und fuhr fort: „Trag ihn wieder
in den Garten und laß den dummen Spatz, der uns vierzehn Tage lang so
unglücklich gemacht hat, fliegen."
„Nein," cntgcgnctc die Frau, „das wäre grausam! Er ist noch nicht recht
flügge, und die Katze konnte ihn wirklich kriegen. Wir wollen ihn noch einige
Tage füttern, bis ihm die Federn noch mehr gewachsen sind, und dann — dann
wollen wir ihn fliegen lassen!" —
Die Moral von der Geschichte aber ist: wenn jemand einen Spatz ge
fangen hat und denkt, eS fei eine Nachtigall — sag'L ihm bei Leibe nicht; denn
er nimmt's sonst übel, und später wird er's gewiß von selbst merken.