Full text: Träumereien an französischen Kaminen: Märchen

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Lumpen und deinem zuckersüßen Gesicht die Kundschaft abzwicken? Die Ecke 
hier habe ich gepachtet. Mach flink, sonst sollst du sehen, was mein Krückholz 
für ein schöner Fiedelbogen ist, und dein Rücken für eine narrische Geige!" 
Da seufzte die Ritterfrau, stand auf und ging soweit als sie die Füße tragen 
wollten. Endlich kam sie in eine große, fremde Stadt. Hier blieb sie, setzte sich 
an den Kirchwcg, unb bettelte; und Nachts schlief sic auf den Kirchenstufcn. 
So lebte sie tagaus tagein, und es schenkte ihr der eine einen Pfennig und 
der andre einen Heller; manche aber auch gaben ihr nichts oder schimpften gar, wie 
cs der Bauer getan hatte. Es ging aber sehr langsam mit den hundert Gold- 
gulden. Denn als sie dreiviertel Jahr gebettelt hatte, hatte sie erst einen Gulden 
erspart. Und genau wie der erste Gulden voll war, gebar sie einen wunder 
schönen Knaben, den nannte sie „Docberlöst", weil sie hoffte, daß sie ihren 
Mann doch noch erlösen würde. Sie riß sich von ihrem Mantel unten einen 
Streifen ab, eine gute Elle breit, so daß der Mantel nur noch bis an die Kniee 
reichte, wickelte das Kind hinein, nahm cs auf den Schoß und bettelte weiter. 
Und wenn das Kind nicht schlafen wollte, wiegte sie es und sang: 
„Schlaf ein auf incinenr Schoße, 
Du armes Vettelkind, 
Dein Vater wohnt im Schlöffe — 
Und draußen weht der Wind. 
Er geht in Samt und Seide 
Trinkt Wein, ißt weißes Brot, 
Und sah' er so uns beide. 
So härmt' er sich zu Tod. 
Er braucht, sich nicht zu härmen, 
Du liegst ja weich und warm; 
Er ist ja noch viel armer, 
Daß Gott sich sein erbarm!"
	        
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