Full text: Träumereien an französischen Kaminen: Märchen

hörte er sie leise schluchzen, und als er ihren zerlumpten und geflickten -Mantel 
sah und das wunderschöne Kind aus ihrem Schoß, welches ebenfalls nur in 
Lumpen gewickelt war, tat eö ihm in der Seele weh. Er trat an sie heran und 
fragte sie, was ihr fehle. Doch die Frau antwortete nicht und schluchzte nur 
noch mehr, so sehr sie sich auch Mühe gab, eö zu verbeißen. Da zog der Ritter 
seine Geldtasche hervor, in der viel mehr waren, als hundert Goldgulden, legte 
sie ihr auf den Schoß, und sagte: „Ich gebe dir alles, was ich noch habe, und 
sollte ich mich nach Hause betteln." 
Da fiel der Frau, ohne daß sie es wollte, der Mantel voin Kopf herunter, 
und der Ritter sah, daß cs sein eignes, angetrautes Eheweib war, der er das 
Geld geschenkt hatte. Trotz der Lumpen siel er ihr um den Hals und küßte sie 
und als er vernahm, daß das Kind sei» Sohn sei, herzte und küßte er es auch. 
Doch die Frau nahm ihren Mann, den Ritter, an der Hand, führte ihn in die 
Kirche und legte das Geld auf das Kirchbccken. Dann sagte sie: „Ich wollte 
dich erlöse», aber du hast dich selbst erlöst." 
Und so war cS auch; denn als der Ritter aus der Kirche trat, war der 
Fluch gehoben und der Rost, der seine ganze linke Seite bedeckte, verschwunden. 
Er hob seine Frau mit dem Kinde auf sein Pferd, ging selbst zu Fuß daneben 
und zog mit ihr zurück in sein Schloß, wo er lange Jahre glücklich mit ihr 
lebte und so viel Gutes tat, daß ihn alle Leute lobte». 
Die Bettlerlumpen aber, die seine Frau getragen hatte, hing er in einen 
kostbaren Schrein, und jeden Morgen, wenn er aufgestanden war, ging er an 
den Schrein, besah sich die Lumpen und sagte: „Das ist meine Morgcnandacht, 
die nimmt mir der liebe Gott nicht übel, denn er weiß, wie ich's meine, und 
ich gehe nachher doch noch in die Kirche." 
ZO
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.