Leutnants-Leben
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wie im schönen Süden; allein eben diese große Freiheit erhielt sie
unbefangen und naiv, und sie waren, obwohl bereits zur Blüte heran
gereift, unschuldiger und unerfahrener, als es viele blondhaarige, blau
äugige deutsche Pensionärinnen von sich rühmen können. Der ältesten
Tochter hatten sich trotz ihrer Jugend schon gute Partien darge
boten, doch hatte sie bisher alle Freier abgewiesen. Endlich hatten
die Eltern eine Partie zwischen ihr und einem Reisenden des Hauses
arrangiert, einem wohlhabenden, ganz angenehmen jungen Manne,
und Helene hatte bis dahin weder Ja noch Nein gesagt, so daß Groß
mutter und Vater die Sache beinahe als abgemacht betrachteten.
Der junge Mann selbst hatte mit der Hauptperson noch nicht ge
sprochen; da er aber ein einziges Muttersöhnchen war, so ließ er
sich nicht träumen, daß er einen Korb erhalten könne. Als ich in
das Haus kam, wurde er zurückerwartet, und ich hörte durch eine
dritte Person, daß dann die Verlobung gefeiert werden solle. Acht
Tage eines beständigen Zusammenlebens in einem Hause, wo es mit
italienischer Umgangsfreiheit zugeht, machen zwei junge Leute mehr
bekannt als eine Bekanntschaft von einem Jahr unter gewöhnlichen
Verhältnissen. Helene und ich suchten uns wie Eisen und Magnet,
denn es zog uns eine unwiderstehliche Gewalt zu einander. Eines
Nachmittags fand ich Helene allein in einem Zimmer; sie sah bewegt
und sogar blaß aus. Als sie mich sah, schwankte sie, so daß sie sich
an einem Möbel halten mußte. Bestürzt fragte ich, was ihr fehle
und erhielt mit unsicherer Stimme die Antwort; „Herr Müller ist
eben angekcmmeni" Es war dies der Reisende des Hauses, der ihr
bestimmte Bräutigam. Als er vom Wagen stieg, war er, wie Ich
später erfuhr, ihr im Hausgange begegnet, und als er ihr die Hand
reichen wollte, gab sie ihm die linke. „Bekomme ich nicht die rechte
Hand?“ hatte er gefragt, worauf sie ihm auch die linke entzogen
hatte und weggelaufen war. Unter diesen Umständen war denn eine
Erklärung unvermeidlich. Ich fragte sie, ob sie mich lieb habe? und
so weiter, und erhielt die befriedigendsten Antworten. Wir gingen so
gleich zur Mutter und sagten ihr, an welcher Krankheit wir litten;
natürlich hatte dieselbe dies schon lange gemerkt und war gar nicht
überrascht; sie hatte gegen den Schwiegersohn nichts einzuwenden
und sprach unter den gewöhnlichen Tränen: „Behaltet Euch lieb und
gebt Euch einen Kuß!“ Schluchzend sagte Helene: „Das haben wir
schon getan!" und mitten in den Tränen brachen wir in ein lautes
Lachen aus.
Herr Müller war unterdessen ebenso unglücklich wie ich glück
lich, Die Großmama, deren Liebling er war, kam bestürzt aus seinem
Zimmer und erklärte, er liege vcrzweiflungsvoll auf seinem Bette
und wolle sich mit aller Gewalt totschießen. Ich beruhigte sie durch
die Versicherung, daß ich mich schon mehrmals totgeschossen hätte
und es durchaus nicht gefährlich sei. Sie schlug die Hände zusammen