Full text: Der kleine Lord

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„Ich bin Graf Dorincourt." 
Er hielt einen Augenblick inne — unwillkürlich mußte 
er ihr in die Augen sehen. Diese Augen glichen so ganz 
und gar denen, die er täglich mit ihrem kindlich liebe 
erfüllten Blick auf sich gerichtet sah, daß es eine merkwürdige 
Empfindung in ihm hervorrief. 
„Der Junge sieht Ihnen sehr ähnlich," sagte er plötzlich. 
„Das hat man mir häufig gesagt, Mylord," erwiderte 
sie, „aber es macht mir größere Freude, wenn man ihn seinem 
Vater ähnlich findet." 
Lady Lorridaile hatte recht gehabt, ihre Stimme klang 
wirklich besonders süß und lieblich, und ihr Benehmen war 
höchst natürlich und würdig, auch schien sein unerwartetes 
Erscheinen sie keineswegs aus der Fassung zu bringen. 
„Jawohl," versetzte der Graf, „er sieht auch — meinen, 
Sohne ähnlich." Er zerrte heftig an den Enden des weißen 
Bartes. „Wissen Sie, weshalb ich hierher gekommen bin?" 
„Mr. Havisham ist bei mir gewesen und hat mir gesagt, 
daß Ansprüche geltend genmcht werden —" 
„Und ich komme, Ihnen zu sagen, daß diese Ansprüche 
! mau untersucht und bestritten werden sollen, falls sich dazu 
irgend eine Möglichkeit bietet. Ich bin gekommen, Ihnen 
zu sagen, daß der Junge mit allen Hilfsmitteln des Gesetzes 
verteidigt werden soll. Seine Rechte —" 
„Er soll nichts besitzen, was nicht wirklich und wahr 
haftig sein Recht ist," unterbrach ihn die sanfte Stimme, 
„selbst wenn irgend ein Gesetz ihm dazu verhelfen könnte." 
„Das kann das Gesetz leider nicht," sagte der Graf, 
„sonst würde es geschehen. Dieses erbärmliche Geschöpf und 
ihr Kind —" 
„Vielleicht hat sie ihren Knaben ebenso lieb, wie ich 
meinen Ceddie, Mylord," sagte die kleine Mrs. Errol, „und 
wenn sie die Frau Ihres ältesten Sohnes gewesen ist, so ist 
jener Lord Fauntleroy, und mein Kind nicht." 
Sie hatte so wenig Angst vor ihm wie Cedrik, sie sah 
ihn gerade so unerschrocken an, wie jener, und das that dem 
Manne wohl, der sein lebenlang ein Tyrann gewesen war. 
Es war ihm so selten begegnet, daß jemand gewagt hatte, 
ihm gegenüber andrer Meinung zu sein, daß es den Reiz 
der Neuheit für ihn hatte. 
„Ihnen wäre es wohl bedeutend lieber, wenn er nicht 
Graf Dorincourt zu werden hätte?" fragte er etwas gereizt.
	        
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