Full text: Der kleine Lord

135 
Der hochgewachsene junge Mann — Ben Tipton — sah 
sie schweigend an. 
„Die Dame ist Ihnen bekannt?" fragte Mr. Havisham, 
von einem zum andern blickend. 
„Jawohl," sagte Ben, „wir kennen uns!" Damit 
wandte er ihr den Rücken, als ob er den verhaßten, wider 
lichen Anblick nicht länger ertragen könnte, und trat ans 
Fenster. Die Frau, die sich so vollständig entlarvt und preis 
gegeben sah, geriet nun in eine an Wahnsinn grenzende Wut, 
die freilich für Ben und Dick nichts Neues war, und erging 
sich in entsetzlichen Schimpfreden, Drohungen und Verwün 
schungen, was auf Dick die Wirkung hatte, daß sein Grinsen 
sich nicht mehr ganz innerhalb der Grenzen des Schönen 
hielt. Ben blieb abgewandt, regungslos stehen. 
„Ich kann es vor jedem Gerichtshof beschwören, daß sie 
es ist," sagte er dann zu Mr. Havisham, „und wenn es 
nötig ist, kann ich außerdem noch ein Dutzend Zeugen dafür 
beibringen. Ihr Vater ist von Haus aus ein anständiger 
Mann, freilich sehr heruntergekommen, die Mutter war gerade 
wie sie. Der Vater lebt noch und hat Ehrgefühl genug, sich 
seiner Tochter zu schämen. Er kann's Ihnen sagen, wer 
sie ist, und ob sie mich geheiratet hat oder nicht." 
Dann, plötzlich die Faust ballend, wandte er sich zu ihr. 
„Wo ist das Kind?" fragte er. „Es geht mit mir! Mit 
dir ist der Knabe fertig, so gut wie ich!" 
Kaum hatte er ausgesprochen, als sich die in das Schlaf 
zimmer führende Thüre ein wenig aufthat und das Kind, 
vermutlich durch das laute Sprechen neugierig gemacht, herein- 
gucktc. Es war kein hübsches Kind, aber das Gesicht war 
klug und angenehm, ganz und gar dem Vater ähnlich, und 
am Kinn war die sehr sichtbare, dreizackige Narbe. 
Ben ging auf ihn zu und nahm ihn bei der Handi 
seine eigne zitterte heftig. 
„Ja," sagte er, „daß der der meine ist, kann ich auch 
beschwören. Tom," wandte er sich zu dem Kleinen, „ich 
bin dein Vater und ich will dich mitnehmen. Wo ist dein 
Hut?" 
Der Junge deutete auf einen Stuhl, wo derselbe lag. 
Das Mitgenommenwerden schien ihm offenbar eher erfreulich, 
und er hatte in den paar Jahren seines Erdenlebens des 
Ueberraschenden schon so viel erfahren, daß es ihm gar nicht 
verwunderlich vorkam, in diesem Fremden seinen Vater sehen
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.