Full text: Der kleine Lord

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„Meinst du, daß du das könntest?" fragte er rauh. 
„Ich glaube ja," erwiderte Cedrik. „Ich bin sehr stark, 
weißt du, bin auch schon sieben. Du kannst dich auf einer 
Seite aus deinen Stock stützen und auf der andern auf 
mich. Dick sagt, daß ich gute Muskeln habe für einen Jungen 
von sieben." 
Er streckte den Arm stramm aus, damit der Graf die 
Kraft seiner von Dick belobten Muskeln sehe, und sah dabei 
so ernsthaft und wichtig drein, daß der Bediente wieder ge 
nötigt war, seine volle Aufmerksamkeit dem häßlichen Bilde 
zuzuwenden. 
„Wohl und gut," entschied der Graf, „du sollst's ver 
suchen." 
Cedrik reichte ihm seinen Stock und half ihm beim Auf- 
Ö en. Dies war in der Regel des Bedienten Amt, der 
ei manch' derben Fluch zu hören kriegte und oft und viel 
innerlich vor Empörung knirschte. Heute ging die Sache 
ohne Fluchen ab, obwohl die Gicht manch bösen Reißer that, 
allein der Graf wollte nun einmal den Versuch machen. Lang 
sam erhob er sich und legte die Hand auf die schmale Schulter, 
die ihm so mutig als Stütze geboten wurde. Vorsichtig that 
Lord Fauntleroy einen Schritt vorwärts und sah dabei sorg 
fältig auf das kranke Bein. 
„Stütze dich nur recht fest auf mich," sagte er ermuti 
gend. „Ich will ganz langsam gehen." 
Wenn der Graf seinen Diener zum Führer gehabt hätte, 
würde er sich allerdings weniger auf seinen Stock und mehr 
aus jenen gestützt haben, und doch hielt er es bei seinem 
Experiment auch für nötig, den Enkel sein Gewicht fühlen 
zu lassen, das in der That nicht leicht war. Nach wenig 
Schritten war denn auch das kleine Gesicht dunkelrot und 
sein Herz fing an, heftig zu klopfen, allein er stemmte sich 
mächtig gegen des Großvaters Hand und erinnerte sich Dicks 
Ausspruch über seine Muskeln. 
„Hab nur keine Angst und stütze dich fest auf," keuchte 
er, „ich kann es ganz gut, wenn — wenn es nicht zu weit ist." 
Es war eigentlich kein langer Weg zum Speisezimmer, 
und doch kam es Cedrik wie eine Ewigkeit vor, bis sie den 
Stuhl am oberen Ende der Tafel erreicht hatten. Die Hand 
auf seiner Schulter schien mit jedem Schritte wuchtiger zu 
lasten, sein Köpfchen ward immer heißer und sein Atem 
kürzer, allein er dachte nicht daran, seinen Dienst aufzugeben:
	        
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