Abhandlung XI. § 102. 103. 104.
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102. Man sagt vielleicht, dass Gott durch sein
mittleres Wissen vorausgesehen, dass der erstere, auch
wenn er in Polen geblieben wäre, ebenso schlecht und
verdammlich geworden sein würde und es mag mitunter
sich treffen, dass so etwas wirklich stattfindet. Aber
wird man dergleichen als eine allgemeine Regel hiu-
stellen und behaupten, dass auch nicht einer unter den
zur Verdammniss bestimmteu Heiden gerettet worden sein
würde, wenn er unter die Christen gekommen wäre?
Hiesse dies nicht unserm Herrn widersprechen, welcher
sagt, dass Tyrus und Sodom seine Prophezeihungen mehr
gewürdigt haben würden, als Capernaum, wenn sie das
Glück gehabt hätten, sie zu hören?
103. Aber selbst wenn man den Gebrauch des
mittleren Wissens gegen allen Anschein hier gestatten
wollte, so setzt dasselbe doch immer voraus, dass Gott
erwäge, was der Mensch in diesen und jenen Umständen
thun werde und es bleibt immer wahr, dass Gott ihn in
heilbringendere Umstände hätte versetzen und ihm innere
oder äussere Hülfen hätte gewähren können, welche
selbst den grössten Vorrath von Bosheit hätten besiegen
können, der sich in solchen Seelen befindet. Man sage
nicht, dass Gott dazu keiue Verpflichtung habe, denn
dies genügt nicht; es müssten vielmehr die erheblichsten
Gründe ihn daran verhindern, Allen seine volle Güte zu
kommen zu lassen; also muss es hier eine Wahl gebeu,
aber ich meine, dass man den Grund dazu nicht durchaus
in der guten oder schlechten Anlage der Menschen zu
suchen habe; denn wenn man mit Einigen annimmt, dass
Gott bei seiner Wahl des Welt-Planes, welcher das meiste
Gute erzeugt, aber welcher die Sünde und die Ver
dammniss mit enthält, durch seine Weisheit zur Auswahl
der besten Naturen bestimmt worden ist, um sie zum
Gegenstand seiner Gnade zu machen, so scheint die
Gnade Gottes dann nicht genügend freiwillig, und der
Mensch müsste sich dann selbst durch eine Art von an
geborenem Verdienst auszeichnen; eine Annahme, die
von den Grundsätzen des heiligen Paulus und selbst
von denen der allerhöchsten Vernunft sehr abweichend
erscheint.
104. Es ist allerdings richtig, dass bei Gott
Gründe für seine Wahl bestehen und dass dabei auch der