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schichte vom Auszug Israels aus Aegypten schon früher festgestellt haben.
Auch sie mutz ursprünglich itt irgendeinem der Jahwe-Stämme aus der
Wüste südlich von Juda gedichtet worden fein; dann aber ist sie recht
eigentlich das Trost- und Glaubenslied der unteren Klassen im Reiche
Israel geworden und spielt daher in der ganzen Schriftstellerei der
Propheten und der von ihr aHängigen jüdischen Schriftgelehrten eine
hervorragende Rolle. Sie ist ein Zeugnis dafür, ivie bald die Gedanken
bewegung der unteren Klassen die Richtung auf Ausbildung einer neuen
Frömmigkeit gewann.
In der ältesten Form, in der diese Geschichte nach Israel kain,
wird sie etwa iu der zweiten Hülste des neunten Jahrhunderts, vielleicht
in den nächsten Jahrzehnten nach Jehu, erzählt lvordeu sein. Und schon
in dieser ältesten Form ist ihr hervorstechendster Zug der Verzicht auf
jede menschliche Hilfe! Kein Jahive-Hymuus alten Stiles feiert den
llutergang Aegyptens am Roten Meer; kein Gideon, kein Saul, kein
Barak ist in wütendem Aufbegehren gegen das Herrschervolk, die
Aegypter, losgebrochen. Jahwe selbst, in eigener Person, hat sein Volt
geführt und hat du»ch seinen Anblick allein, nicht durch sein Mitkämpfen,
die Feinde 31t tödlichem Schrecken verwirrt. Die Geschichte weiß in
ihrer ältesten Form noch genau, daß Jahives Gestalt die Feuer- und
Wolkensätilc des Vulkans oder des Erdfeuers ist. Damit beweist sie
ihre Herkunft aus Wüstenstämmen. Aber sie hat in Israel von Anfang
an die Stimmung des duldenden Gehorsams und der Hoffnung aus
übernatürliche Hilfe gewonnen, und damit zeigt sie, wie bald trotz der
durch Elisa veranlaßten Revolution die Stimmung untätigen Dnldeus
die Proletarier Israels erfaßt haben muß.
In der älteren Form zeigt die Auszugsgeschichte noch manche Reste
altisraelitischen Fühlens. Jahwe scheut sich nicht, die Aegypter betrügen
zu lassen. Nicht durch Krieg und Erhebung, sondern durch Lüge und
List entziehen sich die Sklaven der ägyptischen Herrschaft und gewinnen
außerdem die kostbarsten Opferschalen und Prunkgewänder der Aegypter.
Wie Jakob einst die Erstgeburt von Esau und die Herden von Laban
gewann! Aber merkwürdig rasch hat sich die Auffassung gewandelt.
Schon wenige Jahrzehnte später, etwa um das Jahr 800 vor Christus,
ist aus dem stoff der Auszugsgeschichte von eineiu bedeutenden Dichter
der Joseph-Roman herausgesponnen worden, und der zeigt die neue
Stimmung ails einer Höhe, ivie sie vordem wohl noch niemand und gleich
zeitig wohl nur wenige erklommen hatten.
Der Josephroman ist der Gipfelpunkt der Erzählungskunst im
ganzen Alten Testament. Die wunderbare Verschlingung lauter ein
zelner Szenen zu einem zusammenhängenden Ganzen, die starke
Rührung, die den ganzen zweiten Teil des Romans durchzieht, und die
in der großen Erkennungsszene ihren Höhepunkt findet, die sittliche
Läuterung, die sich gerade durch das Unglück vollzieht, und die der
Dichter sowohl an dem eitlen und vorlauten Joseph, wie erst recht an
seinen neidischen und gewalttätigen Brüdern zur Anschauung bringt,
die vollständige Durchführung jener rein natürlichen Darstellung, die
den Namen Jahives kaum je in den Mund nimmt und doch vom ersten
bis zum letzten satz Jahwe als Lenker und Leiter der Welt, als Schicksal,
Fügung und Vorsehung ahnen läßt: das alles zusammen läßt diesen
Joseph-Roman als die reifste Frucht jener altisraelitischen Geschicht
schreibung erscheinen, die im Zeitalter Davids begann und, wie die
Jehu-Geschichte beweist, auch in den nächsten Jahrhunderten noch weiter
gepflegt worden sein muß.
Biblische Geschichten. VI. 3