ganz Sachsen warnt man die Kinder, wenn das Getreide reift, nicht tief ins
Korn zu gehen, sonst komme der Kornengel und trage sie fort, und wer von
dem geraubt werde, der komme nie mehr zu Menschen zurück^. Durch den
Ausdruck Engel stellt sich die christliche Aatur der Sache hinlänglich heraus,
und es ist somit klar, daß die christliche Geistlichkeit zur Zeit der Ernte durch
verlarvte, im Korne versteckte Menschen die Kinder der Landleute raubte, um
sie ihrem blutigen Moloch zu opfern.
Der Eroppenstädter Vorrat.
Wahrzeichen des Städtchens Croppenstädt im alten niedersächsischen
Hartingau ist nach Otmar ein großer, silberner Pokal, der auf dem dortigen
Nathause verwahrt wird und der Eroppenstädter Vorrat heißt. Man
sieht darauf in erhabener Arbeit dreizehn Wiegen und eine Wanne, worin
vierzehn Kinder liegen; zur Erklärung des sonderbaren Vildes dient eine In
schrift in schlechten lateinischen Versen, die also lautet:
Matribus a bis sex unoque videlicet anno
Bis septem pueros genitor generaverat unus.
Provide tune matres curarunt tredecim cunas;
Dum non sufficiunt, unum posuerunt in vanno.
Haec sunt nostra penus nostrae venerabilis urbis.
Zwölf Frauen gebaren hiernach einem Mann in einem Jahre vierzehn
Knaben, da man aber nur dreizehn Wiegen hatte, so wurde das vierzehnte in
eine Wanne oder Mulde gelegt, was das Volk, das aus dem Vater einen
Kuhhirten des Ortes macht, noch umständlicher zu erzählen pflegtDiese wohl
nur zum Behufe der Ausdeutung eines alten, unverständlich gewordenen
Bildes und Aamens erfundene Erzählung scheint ganz ohne historischen Wert,
von desto größerem aber das Bild selbst und der Name des Bechers, der
Eroppenstädter Vorrat, zu sein. Das Bild auf dem Becher folgt wohl einer
alten, echten Darstellungsart, die Inschrift dazu der unechten, ausdeutenden
Sage, und jener Aame bezieht sich ursprünglich auf einen ganz anderen als
mangelhaften Vorrat an Wiegen für die Kinder des angeblichen Kuhhirten;
denn es ist ja von einem Vorrat des Städtchens die Nede, und faßt man als
diesen die Wiegen auf, so wird kein Sinn und Aufschluß gewonnen, so daß
wir es mit den Kindern versuchen und annehmen müssen, es seien eigentlich
diese in den Wiegen und der Wanne liegenden Kinder selbst als Eroppen
städter Vorrat bezeichnet. Das Städtchen also hatte einen Vorrat von vierzehn
Kindern — was soll das heißen? And wie ist hierbei der Anterschied der
Wiegen und der Wanne zu fassen? Aur unsere Erklärungsart, das heißt die
Beziehung des Bildes und Namens auf einen alten Opfergebrauch dürfte hier
Aufschluß geben. And da stellt sich als historische Basis und Tatsache folgen
des heraus. Croppenstädt hielt stets eine Anzahl von vierzehn Kindern bereit,
von denen von Zeit zu Zeit eines zum Opfer fiel. Dies letztere, als solches,
wird dadurch bezeichnet, daß es in der Wanne liegt; denn Wannen und Mulden
sindOpfergeräte, daher denn auch der sich derMagd imKeller zeigende Kobold, der
') Sommer I, S. 25 f. - Otmar. S. 46 f.
Daumer: Geheimnisse des christlichen Altertums.
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