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interessirter Großgrundbesitzer, einer von den „Reichsunmittelbaren", die sich
das Privilegium der Steuerfreiheit mit dem schweren Gelde der Steuerzahler
abkaufen ließen, zeigte bei dieser Gelegenheit zum ersten Male seine Neigung,
durch Taschenspieler-Kunststücke namentliche Abstimmungen zu verhindern, ebenso
aber auch seine erbarmungswürdige, an seinen parteigenössischen Vorgänger,
den unvergeßlichen Herrn v. Frege, erinnernde Unfähigkeit, den bösen Willen
in die That umzusetzen. Gleich bei seinem ersten Gewaltstreiche wurde er von
Singer festgenagelt und mußte sich zur Herbeiführung einer namentlichen
Abstimmung bequemen. Das amtliche Stenogramm schweigt über diesen für den
Vizepräsidenten und preußischen Granden so blamablen kurzen Zusammenstoß.
Die folgenden Tage, in denen über die Vieh- und Fleischzölle verhandelt
wurde, zeitigten keine besonders bemerkenswerthen Vorfälle. Wichtig war nur
folgende Erklärung Bebel' s am 25. Oktober:
„Wir werden uns streng an die Geschäftsordnung des Hauses halten. Wir
werden nur mit geschäftsordnungsmäßigen Mitteln die Berathung betreiben.
Aber das verlangen wir, daß, wenn einmal weiter berathen werden muß, jede
Position dieses Tarifs — ich wiederhole: jede Position — gründlich berathen
wird, und zweitens, daß das Volk bei jeder Position genau erfährt, wie die
einzelnen Vertreter zu derselben stehen, d. h. daß durch die Form der nament
lichen Abstimmung konstatirt wird, wie sie sich zu jeder einzelnen Position ver
halten. Das ist, wie Sie zugeben werden, ein durchaus loyales Verhalten, so
loyal, wie es überhaupt nur denkbar ist. Obstruktion werden ... wir nur an
wenden als Akt der Nothwehr."
Daß das Haus eigentlich die Verpslichtung habe, die ganze Vorlage mit
ihren 900 Positionen ordnungsmäßig zu berathen, erkannte noch am 27. Oktober
der Nationalliberale Dr. S e m l e r an. Das war aber nicht nach dem Geschmack
der Mehrheit, die an einer unüberwindlichen Abneigung gegen ernste parla
mentarische Arbeit litt.
Am 29. Oktober geruhten die Mitglieder der Mehrheit, die in den drei
Tagen der Viehzollverhandlungen wieder so geschwänzt hatten, daß kein beschluß
fähiges Haus da war, sich in ziemlich stattlicher Anzahl zusammenzufinden. Es
war ein „Abstimmungstag", der erste dieser Art; aber die für jagdliebende
Volksvertreter so bequeme Einrichtung, die der Offiziöse Schweinburg aus
Mähren angeregt zu haben scheint, bürgerte sich in der Folge sehr rasch ein. Ein
Schlußantrag, der wieder die Firma Rettich trug, schnitt die Diskussion über die
Vieh- und Fleischzölle ab und schuf freie Bahn für ein gutes Dutzend theils ein
facher, theils namentlicher Abstimmungen. Auch bei den Fleisch- und Viehzöllen
siegte die Kommissionsfassung mit ihren Mindestsätzen über die Regierungs
vorlage, die hier keine Minimalzölle einsetzen wollte.
Der erste Abstimmungstag hatte sich somit trefflich bewährt; eine Menge
Positionen waren, wie Singer es nannte, „im Ramsch" erledigt worden.
Aber damit nicht genug. Das Zentrum benutzte die günstige Gelegenheit zu der
ersten Ueberraschung. Die Bündler hatten zahlreiche Anträge auf Einführung
von Mindestzöllen für Gärtnereiprodukte gestellt. Ueber alle diese Amendements,
über welche die Debatte noch garnicht eröffnet war, beantragte der Zentrums
abgeordnete Herold mündlich Uebergcmg zur Tagesordnung, der nach der
Geschäftsordnung nur selbstständigen Anträgen, nicht Amendements, wie hier,
gegenüber zulässig erscheint. Der Widerspruch, den Dr. Hahn im Namen der
Bündler erhob, kam so gequält heraus, daß auch hier der Verdacht einer Komödie
nur zu nahe liegt. Herr Richter leistete mit seiner beiläufigen Erklärung,
daß die Anträge der Hochagrarier eine „Prämie auf raffinirte Obstruktion"'
gewinnen würden, der Mehrheit wieder einen werthvollen Dienst. Der