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ßctng zur Tagesordnung logischer Weise nicht nach Schluß der Debatte gestellt
werden; zur Tagesordnung überzugehen bedeutet ja eben, daß man über etwas
nicht verhandeln will.
Aber was kümmerte die Mehrheit Geschäftsordnung, parlamentarischer
Brauch, Vernunft und Logik, was die glänzenden, unwiderleglichen Ausführungen
der sozialdemokratischen und liberalen Redner, denen sich jetzt selbst Eugen
Richter zugesellte I Die Mehrheit lärmte und stimmte nieder, was sich ihr in den
Weg stellte.
Am Donnerstag wurde die Mehrheit mit ihrem Geschäftsordnungsumsturz
nicht fertig; sie vollendete erst am Freitag, den 14. November, ihr herostratisches
Werk und führte aus, was der Streik des elektrischen Lichtes sie am Donnerstag
auszuführen verhindert hatte. Am Freitag wurde der schon am Donnerstag für
zulässig erklärte Antrag auf tlebergang zur Tagesordnung über die sozial
demokratischen Verbesserungsantrüge in namentlicher Abstimmung angenommen
und dann in einer letzten namentlichen Abstimmung, die diesen Namen verdient,
der Antrag A i ch b i ch l e r zum Gesetz des Hauses erhoben. Um zu diesem
Gesetze zu gelangen, war das Grundgesetz des Hauses, die Geschäftsordnung, auf
das schamloseste verletzt worden: über die zertrümmerten Paragraphen 35 und
53 hinweg war die Mehrheit zur Aenderung der Paragraphen 58 und 69 ge
schritten, einer Aenderung, die in einem wichtigen Punkte die von der Reichs-
verfassung vorgeschriebene Oeffentlichkeit der Verhandlungen einschränkt und
zudem die zahllosen Unzuträglichkeiten im Gefolge hat und schon gehabt hat, die
die Redner der Linken vorausgesagt haben
OOO
Das Zwischenspiel.
Nach dem „Siege", den sie mit der lex Aichbichler errungen zu haben
glaubten, ruhten die „Sieger" vorläufig auf ihren Lorbeeren aus. Nur ihre
Führer machten eine rühmliche Ausnahme. Sie nahmen die Mühe parlamen
tarischer Zweckessen beim Grafen Balle st rem auf sich, um daselbst an wohl-
besetzter Tafel mit den obersten Reichsbeamten über die Bedingungen des Zoll
wucher-Schachers zu verhandeln. Zu diesen „sie" gehörte nunmehr auch Herr
Wassermann. Die Nationalliberalen hatten sich bereits mit Haut und
Haaren der Knebelmehrheit verschrieben; sie erhielten bald auch die Erlaubniß,
Vertreter auS ihrer Mitte in die Schlußmachersirma schicken zu dürfen.
In den Händen so bewährter Führer wußte die Mehrheit ihre Sache gut
aufgehoben und sah sich der Nothwendigkeit entrückt, noch länger auf die An-
nehmlichkeiten der Hasen- und Fasanenjagden zu verzichten. So verlief sie sich
denn gleich nach Annahme des Antrages Aichbichler. Am Sonnabend, den
15. November, an dem endlich einmal wieder Petitionen vorgenommen wurden,
waren nicht drei Dutzend Konservative und Zentrumsmänner zur Stelle. Die
Sitzung starb denn auch an Beschlnßunfähigkeit. Am Montag und Dienstag
wurde nicht „gesessen" — ein beschlußfähiges Haus wäre auch sicher nicht zur
Stelle gewesen —, am Mittwoch war Bußtag; erst am Donnerstag fand sich die
Mehrheit wieder zusammen. Schon am Sonnabend, als die wichtige sozial
demokratische Interpellation über die massenhaften polizeilichen Uebergriffe der
jüngsten Zeit zur Berathung stand, hätte die Linke, wenn sie gewollt hätte,
wieder Beschlußunfähigkeit konstatiren können; am Montag, als der sozial
demokratische Antrag, die Zollertrüge für Aufbesserung des Schulwesens zu ver-