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Richter'schen Behauptung steht, nur die „Obstruktion" set es gewesen, die die
Einigung der Mehrheitsparteien bewirkt Habel — —
An diesem Tage häuften sich die Gewaltthaten der Mehrheit zu schier un
glaublicher Höhe. Sie war ganz im Zuge, schwarz für weiß und weiß für
schwarz durch Majoritätsbeschluß zu erklären. Die Erörterung der Frage, ob
der Präsident nicht b»r«tS ernt 27. November, einige Minuten bevor der Antrag
Kardorff auf der Bildfläche erschien, die Berathung des Zolltarifs eröffnet habe,
wurde durch einen Schlußantrag gewaltsam verhindert. Und als die Minderheit
versuchte, diesen Streich dadurch zu verhindern, daß sie den Antrag auf Ueber-
gang zur Tagesordnung über den Schluhantrag stellte, hieß es mit einem Male,
daß ein solcher Antrag entgegen der vor Kurzem von der Mehrheit selbst ein
geführten Praxis unzulässig sei.
Wenn die Mehrheit aber glaubte, mit der Zulässigkeitserklärung des An
trages Kardorff über den Berg zu sein, so sollte sie bald eines Anderen belehrt
werden. Mit beispieUoser Zähigkeit vertheidigte die Minderheit jeden Fuß breit
Terrain; entriß ihr die brutale Gewaltthat der Gegner eine Position, gleich
warf sie wieder neue Schanzen auf. Sie zwang die Mehrheit, vor Eintritt in
die sachliche Berathung des Antrages Kardorff die 37 Referate der Kommissions
berichterstatter entgegen zu nehmen. Dadurch wurde die Unsinnigkeit der dem
Antrage Kardorff zu Grunde liegenden Annahme in hellste Licht gerückt, daß die
Kommissionsbeschlüsse ein Ganzes wären, worüber in einer Verhandlung und
Abstimmung entschieden werden könne. 37 Referate über angeblich ein und den
selben Gegenstand zeigen ja am Besten, daß nichts Einheitliches vorhanden ist.
Die Mehrheitsreferenten machten sich die Sache allerdings so bequem als möglich,
am bequemsten der freikonservative Dr. Arendt, ein sonst sehr zudringlicher
Schwätzer, der aber jetzt das Kunststück fertig bekam, über ein Dutzend Positionen
in zwei Minuten zu referiren. Die passende Einleitung zu dem gewissenlosen
Verfahren der Mehrheitsreferentcn hatte gleich der Versuch des ersten Referenten,
des konservativen Grafen v. Schwerin-Löwitz, gebildet, sich von dem Auf
träge, der ihm ertheilt worden war, überhaupt zu drücken. Er hatte über so
wichtige Positionen wie Mais, Reis, Malz, Oelfrüchte zu referiren. Mit eherner
Stirn erklärte er, aus das Referat, zu dem er verpflichtet war, ganz verzichten
zu wollen. Diese Weigerung bekam ihm übel. Singer und Gothein, denen sich
selbst Richter anschloß, geißelten sein Verhalten so scharf, daß er sich wohl oder
übel entschließen mußte, das Versäumte, allerdings mit kavaliermäßiger Ober
flächlichkeit, nachzuholen.
Die Anträge der Minderheit, allzu stiefmütterlich behandelte Positionen cm
die Kommission zurück zu verweisen, entfachten neue heftige Geschäftsordnungs-
Debatten,, die die Sitzungen vom 3., 4. und 5. Dezember ausfüllten. Dis
Mehrheitsparteien ersannen schließlich den Trick, derartige Rückverweisungs
anträge im Ramsch zu stellen, um so die Linke zu verhindern, mehrere Theil-
anträge auf Rüchverweisung zu stellen. Sie übernahmen es auch, die Redner
für und gegen den Uebergang auf Tagesordnung über die von ihnen selbst
gestellten Rückverweisungs-Anträge aus ihrer Mitte vorzuschicken. Ms besonders
eifrig in diesem Geschäft erwies sich der Vertreter des offiziellen protestantischen
Staatskirchenthums, der freikonservative Konsistorialrath Dr. S t o ck m a n n.
Am Dienstag Abend war die Glocke, die einst die Berühmtheiten des bürger
lichen Parlamentarismus geschwungen haften, entsetzt aus den unfähigen Händen
des Vizepräsidenten Grafen zu Stolberg gesprrmgen. Bis tief in die Nacht
ausgedehnt, wie diese, waren auch die beiden folgenden Sitzungen. Am
Donnerstag wurde Singer aus der Sitzung ausgeschlossen. Die Sache
beruhte, wie Graf zu Stolberg selbst zugestehen mußte, auf einem Mist
verständniß: was den gräflichen Handlanger der Mehrheit natürlich nicht bewog.