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lich erhöhen soff, um sie wieder für einige Zeit flott zu machen; die Hauptleute
der Industrie, die Herren der Riesenkartelle, brauchen nur die Hand auszustrecken,
um erhöhte Schutzzölle zu erhalten, die die lästige Konkurrenz des Auslandes
vom heimischen Markt fernhalten und es ihnen erlauben, dem einheimischen Ver
braucher auch fernerhin nach allen Regeln der Kunst das Fell über die Ohren
zu ziehen. Und da soll die Einigung zwischen diesen beiden Mächten, die in
Wirklichkeit Deutschland beherrschen, nur durch den Aerger über die langen Reden
einiger pflichttreuer Abgeordneter zu Stande gekommen sein? Nur mit der
Regierung war man in der Frage der Mindestzölle auf Getreide scheinbar noch
nicht handelseins. Aber wer konnte das Sträuben und Sperren ernst nehmen,
das Zentrum und Konservative bei Beginn der zweiten Lesung an den Tag
legten? Daß der Regierung nur noch kleine Zugeständnisse abzupressen waren,
gerade so viel etwa, daß man „die Liebe sehen" und sie den Wählern begreiflich
machen konnte, war klar. Nur wegen der Agitation des Bundes der Land-
tvirthe, der im rücksichtslosen Klappern den Regierungskonservativen und dem
Zentrum „über" ist, wurde das schamlose Gaukelspiel eine Zeit lang getrieben.
Und da soll es der Kampf gegen die Obstruktion gewesen sein, der die „Streitenden"
erst vereint hat? Nun, darüber hat Einer, der es wissen muß, der Direktor
des Bundes der Landwirthc, Reichstagsabgeordneter Dr. Diederich Hahn, in
einer Versammlung des rheinischen Bundes der Landwirthe im Dezember folgen
des Urtheil gefällt: Das Ganze war nur blauer Dunst und eine lächerliche
Komödie, welche den Umfall der Konservativen und des Zentrums verdecken
sollte. Die Parole „Gegen die Sozialdemokratie" !var aber auch sachlich eine
Heuchelei. Alles war Spiegelfechterei! Es war Täuschung, als nach dem Antrag
Kardorff die Jndustriezölle in sieben Positionen herabgesetzt wurden. Man hat
damit Heugabeln, Eggen, Drahtseile und einige andere Dinge im Preise von
IV- und 2 Pf. für das Pfund herabgesetzt; aber die große Industrie, beispiels-'
weise den hohen Zoll auf Eisenbahnschienen, der den sieben Firmen des Schienen
kartells jährlich Millionen in den Schoß wirft, hat man wohlweislich nicht be
rührt." Der Schwindel von der „Obstruktion", die alles verschuldet hat, ist da
mit wohl endgültig aufgedeckt.
Die zweite Lüge gilt der Bedeutung einer Geschäftsordnung für
den Reichstag. Es wird so gethan, als hätte diese Geschäftsordnung
etwa das gleiche Gewicht wie die Statuten für einen Kegelklub, als
sei sie eine bloße Formsache, die von einer jeweiligen Zufallsmehrheit ganz
nach Belieben abgeändert werden kann und in diesem Falle abgeändert werden
mutzte, weil die Opposition ein Haufen böswilliger Lärmmacher und die Mehr
heit einer Versammlung bedrängter Ehrenmänner gewesen tväre, die schweren
Herzens und nach reiflicher Prüfung vom Recht der Nothwehr Gebrauch gemacht
hätten.
Wie steht die Sache aber in Wirklichkeit? Die Geschäftsordnung ist das
Grundgesetz des Reichstages und damit ein Stück Reichsverfassung: ausdrücklich
schreibt die Reichsverfassung vor, daß die Gesetze vom Reichstage geschäfts
ordnungsmäßig erledigt werden müssen. Die Geschäftsordnung soll zunächst ein
mal überhaupt eine geordnete Geschäftsführung und eine Berathung ermöglichen.
Sie stellt einen stillschweigenden Vertrag zwischen Mehrheit und Minderheit
dar, der den Reichstag erst zu einen einheitlichen Körper dem Bundesrat gegen
über gestaltet und nicht einseitig aufgehoben werden darf, wenn das Parlament
nicht zu Grunde gehen soll. Die Geschäftsordnung soll der Minderheit das Recht
sichern, ihre Absichten unbehindert auszusprechen; sie soll die Minderheit vor dem
Versuche der Mehrheit schützen, sie auf Grund ihrer zahlenmäßigen lleberlegen-
heit mundtodt zu niachen und die Debatte, den Kampf der Meinungen, zu ersticken.
Der deutsche Reichstag soll gründlich und sachgemäß berathen und nicht etwa